03.04.2015: Dr. Heike Springhart über Joh 19,16-30
Viele Bilder erzählen das Unfassbare
Predigt im Universitätsgottesdienst zum Karfreitag (03.04.2015), Peterskirche Heidelberg
Dr. Heike Springhart
Liebe Gemeinde,
das Unvorstellbare, das Unfassbare lässt sich nicht in einem Bild erfassen.
Sehr verschiedene Bilder und Szenen erzählen je für sich einen wesentlichen Teil der Geschichte. Und es ist nicht nur die Neugier, die uns nach immer neuen Bildern jagen lässt.
Seit über einer Woche täglich die Bilder der Felswand in den Alpen mit den zerschellten Flugzeugteilen. Das Bild vom zerbeulten Flugschreiber. Erst der eine, jetzt auch der zweite. Die Rettungskräfte auf der Suche nach dem, was von den Passagieren der Germanwings-Maschine übriggeblieben ist. Flaggen der Solidarität an der eilig eingerichteten Gedenkstätte in Seyne-les-Alpes. Kerzen vor der Schule in Haltern. Fassungslose Passagiere an den Flughäfen in Frankfurt und Düsseldorf.
Hinter diesen Bildern sind die Tragödien zu ahnen. Die eigentlichen Bilder der Katastrophe verbieten sich und zeigen sich nur denen, die unmittelbar am Ort des Geschehens sind: die Teile der Leichen der Opfer. Die Tränen und die Verzweiflung der Angehörigen. Die Helfer in den Notunterkünften in Seyne-les-Alpes.
Die Versuchung, das eine Bild allein sprechen zu lassen, ist groß. Die nur selten verpixelten Fotos des Co-Piloten, die versehen mit allerlei Spekulationen, mit Ratlosigkeit und mit Entsetzen durch die mediale Welt geisterten. Als könnte das Unfassbare so ein Gesicht bekommen. Und doch bleibt es dunkel hinter diesen Bildern. Was im Kopf und in der Seele dieses Menschen in den letzten Minuten seines Lebens, die auch die letzten Minuten des Lebens von 150 weiteren Menschen wurden, wird wohl im Dunkeln bleiben.
Das unvorstellbare Leid kommt in etlichen Bildern zur Sprache.
Dass Gott selbst sich dieser Welt hingibt, ihr zum Opfer fällt und tödlich verwundet wird – die Passion – lässt sich nicht in dem einen Bild erfassen.
An Karfreitag stehen wir immer wieder neu vor dem, dessen Haupt voll Blut und Wunden, gezeichnet von Schmerz und Hohn uns vom Kreuz her ansieht.
Bilder der Passion: Der Hohn und Spott der aufgebrachten Menge. Gestern noch haben sie Hosianna gerufen – heute schreien sie: Kreuzige ihn!
Der Schrei des von Gott Verlassenen.
Die Dunkelheit mitten am Tag.
Der Evangelist Johannes führt uns in seiner Passionserzählung ein ganz eigenes Panoptikum des unfassbaren Geschehens vor Augen. Wir haben sie bereits gehört.
Die radikale Konsequenz der Niedrigkeit des Höchsten zeichnet wohl keiner so deutlich wie Johannes. Das Wort ist Fleisch geworden. Verwundbarer Leib. Eingegangen in die Niederungen des Menschseins. Gerade in diesen Niederungen wird die Herrlichkeit dieses königlichen Menschen, des menschlichen Gottes, sichtbar. Radikal und konsequent. Verurteilt von Pilatus, der seinem eigenen Gewissen weniger glaubt als der aufgebrachten Menge.
So übergibt er Jesus den Fanatikern, tut seinen Teil dazu, dass dieser zum Tod verurteilt wird. In mageren und nüchternen Worten berichtet Johannes davon. Das Geschehen ist ungeheuerlich genug, da braucht es keine Ausschmückung, keine sensationslüsternen Details.
Bruchstücke reichen, um das, was sich an Schmerz und Verspottung, an Erniedrigung und Entwürdigung dahinter verbirgt, anzudeuten.
Der zerfetzte Koffer an der Felswand.
Das zurückgebliebene Paar Kinderschuhe in Buchenwald.
Der Trümmerhaufen in Mossul, der einst eine Statue war.
Jesus trägt sein Kreuz selbst. Die Massen schweigen. Johannes erwähnt sie nicht einmal mehr. Keiner, der Jesus das Kreuz abnimmt. Die Einsamkeit des zum Tod Verurteilten. Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn.
Sterben und Leiden, Verwundung und Verletzung kann keiner dem anderen abnehmen. Das macht es für die, die dabei stehen, die es sehen und mit erleben, mitunter unerträglich.
Die Einsamkeit der Leidenden und Sterbenden wird auch zur Bürde derer, die mitgehen. Die ihre eigene Hilflosigkeit erleben, wenn die letzte Wegstrecke eingeschlagen ist. Denen plötzlich schmerzhaft bewusst wird, dass da Worte sind, die sie lieber nie gesagt hätten, gemeinsame Geschichte, wo einer am andern schuldig geworden ist, die sich vielleicht nicht so einfach aus der Welt räumen lässt.
Die Einsamkeit der Sterbenden wird so auch zur Einsamkeit der Zurückbleibenden.
Szenenwechsel. Ein neues Passionsbild. Pilatus. Er schreibt eine Tafel. „Der König der Juden“, gründlich, dreisprachig: in der Volkssprache, der Amtssprache und der Handelssprache. Alle, die an diesem Todeshügel vorbeikommen, sollen es lesen können.
Was einmal geschrieben ist, ist in der Welt. Was einmal gesagt ist, schafft Wirklichkeit. Mediale Spekulationen über das Leben des jungen Mannes aus Montabaur. Die Hetzjagd auf die, die Verdächtigungen ausgesetzt sind. Was einmal groß in der Zeitung stand, kann kaum durch ein kleingedrucktes Dementi aus der Welt geschafft werden.
Die Tafel am Kreuz bleibt mehrdeutig. Die, die gegen Jesus hetzen, wollen dass der Anspruch Jesu sichtbar wird, der für sie eindeutig eine Anmaßung ist. Aber Pilatus weigert sich, den Text zu überarbeiten. Dieses Mal beugt er sich nicht der Masse. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Die Verhöhnung wird zur Verkündigung.
Das Rechtssystem, die öffentliche Meinung – auch sie sind verwundbar und gefährdet, zum Fanatismus zu werden. Pilatus, der sich erst zu ihrem Instrument hat machen lassen, straft sie am Ende Lügen.
Noch ein Bild: die Soldaten unter dem Kreuz.
Täglich tun sie ihre Pflicht. Spielen ihre Rolle in einem großen, grausamen Apparat. Ja, auch die Integrität und die Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit ist immer wieder verwundbar und korrumpierbar. Im Großen und im Kleinen. Auch das Grauen ist klar geregelt.
Die Kleider der Hingerichteten stehen ihnen zu. Im Angesicht der Entkleideten und Nackten tun sie ihre Pflicht. Tun ihren Teil zur Erniedrigung dazu – und tun doch einfach nur ihre Pflicht. Erst wird das Leben Jesu verspielt, jetzt losen sie um das Untergewand. Zerteilen wollten sie es dann doch nicht. Bevor den Hingerichteten das Leben genommen ist, sind ihnen die Kleider enteignet. In unmittelbarer Nähe des Kreuzes demonstrieren sie größtmögliche Ferne. Die Sterbenden scheinen für sie schon nicht mehr zu existieren.
Das tun die Soldaten.
Ganz anders die Frauen. Auch ein Passionsbild.
Sie setzen sich dem Kreuz und dem Sterben aus und riskieren dabei, selbst zum Opfer zu werden. Sie riskieren für ihre öffentlich sichtbare Solidarität mit dem Gekreuzigten, für ihre Nähe zum Hingerichteten, mit derselben Todesart bestraft zu werden. In der Nähe des Sterbenden stirbt auch ein Teil von ihnen.
Sie tun genau das, was nicht üblich ist, was aus dem Rahmen fällt, was die Ordnung sprengt. Maria, die Mutter, ist Zeugin der ersten und letzten Tat Jesu. Beim Hochzeitsfest in Kana war sie von ihrem Sohn harsch abgewiesen worden: „Was geht’s dich an, was ich tu? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Sie bleibt, lässt es sich angehen – auch jetzt, als seine Stunde gekommen ist.
Und der Gekreuzigte verweist die Seinen aneinander. Am Kreuz, dem Ort des schändlichsten und einsamsten Todes, beginnt eine neue Liebesgemeinschaft. Der Jünger, der ihm besonders nahe war und die Mutter – beide sollen füreinander Sorge tragen.
Der königliche Gottessohn geht nicht isoliert und allein auf sich bezogen, auch nicht autonom ans Kreuz, sondern er gibt sich der Welt hin.
Die Verwundbarkeit Gottes zieht ihre Spur in die Angewiesenheit der Seinen aufeinander. So sehr lässt sich Gott liebend in diese Welt verwickeln, dass er seinen Sohn dahingibt. Die Einsamkeit des sterbenden Jesus überwindet die Vereinzelung der Seinen. Keine muss ihren Schmerz allein tragen, keiner seine Tränen selbst trocknen.
Und auch hier beschreibt Johannes sehr nüchtern. Keine Liebes- und Fürsorgeschwüre, sondern schlicht: „ Frau, siehe, das ist dein Sohn! – Siehe, das ist deine Mutter.“
Wo das Unfassbare geschieht, versagen die Worte.
Unschätzbar ist dann das Wagnis geteilter Verletzlichkeit.
Unschätzbar sind dann die, die da bleiben.
Die Hände halten im Hospiz.
Die einfach ihr Dorfhäuschen öffnen für die, die das Liebste in den Alpen verloren haben.
Die ihre Ohren nicht verschließen vor der stotternd erzählten Geschichte von missbrauchtem Vertrauen und gebrochener Seele.
Die Kirche als Gemeinde von verletzlichen Gliedern am verwundbaren Leib Christi nimmt ihren Anfang an jenem Akt der Fürsorge, mit dem der Gekreuzigte die Seinen aneinander verweist.
Ein letztes Bild. Der sterbende Gekreuzigte verlangt nach Essig.
Auch hier steht die Souveränität dessen, der sich königlich um die Erfüllung der Schrift sorgt neben dem durstigen Leidenden, dessen Kräfte zu Ende gehen. Der bewusst in den Tod geht.
Sehenden Auges – vor sich die, für die er schon gestorben ist und die ihn noch in den letzten Stunden demütigen – vor sich auch die, die bei ihm bleiben, nahe und in unverbrüchlicher Leidensgemeinschaft.
So neigt er das Haupt und stirbt.
Verwoben und voll und ganz in diese Welt eingegangen – und doch nicht von ihr.
Es ist vollbracht. Der Gang Gottes in die Niederungen der Menschheit, die Hingabe des Sohnes an die Welt in vollem Risiko, mit Blut und Wunden, mit Schmerz und Hohn – aber auch mit verheißungsvollen Zeichen des Neuen. Zeichen und Wunder, Blinde sehen, Lahme gehen, den leiblich und seelisch Armen wird das Evangelium gepredigt.
Der Neuanfang ist gelegt, die Saat wird aufgehen.
Es ist vollbracht – aber nicht erledigt.
Es sind viele Bilder, die das große Ganze erzählen.
Bilder und Szenen, die sich zu dem einen fügen.
Zu dem einen Trostbild, wenn ich einmal soll scheiden.
Zu dem einen Trostbild, das den
müden Augen,
dem brechenden Augenlicht,
den sterbenden Augen Halt und eine Aussicht gibt.
Halt und die Aussicht auf den Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.