07.11.2010: Pfarrerin Dr. Heike Springhart über Röm 14, 7-9
Wohnst Du noch – oder lebst Du schon?
Predigt über Röm 14,7-9 im Universitätsgottesdienst am 7.11.2010 anlässlich der Einführung als Studienleiterin im Theologischen Studienhaus Heidelberg
Predigerin: Pfarrerin Dr. Heike Springhart (Theologisches Studienhaus)
Liebe Gemeinde,
Wohnst Du noch – oder lebst Du schon?
So fragt prägnant die Reklame des großen schwedischen Möbelhauses mit den vier gelben Buchstaben. Einfach nur wohnen, das war gestern. Zwischen Billy und Poäng, mit Benno und Ludde beginnt das Leben, das mehr als einfach nur wohnen ist – so die Botschaft mit schwedischem Akzent.
Leben ist mehr!
Mehr als nur Wohnen.
Mehr als das tägliche Einerlei.
Mehr als die hoch aufgetürmten Berge von Sorgen.
Mehr als das, was unmittelbar vor Augen steht – an To-do-Listen, an Prüfungsvorbereitungen, an Streitereien über den Müll in der Wohnheimküche.
Leben ist mehr!
Leben ist mehr als das, was wir selber daraus machen.
Mehr als das, was uns selber an den Rand bringt.
Leben ist mehr, weil es eine Richtung hat.
Daran erinnert der Apostel Paulus die Gemeinde in Rom und uns heute mit prägnanten Worten [Röm 14, 7-9]. Im Brief an die Römer schreibt er:
Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.
Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden,
dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Oft habe ich diese Worte am Rande von Gräbern gesprochen.
Im Moment des unfassbar schweren Abschieds, beim letzten Blick auf den Sarg. Dort, wo die Endgültigkeit des Todes gnadenlos vor Augen steht, spannen sie einen Bogen, der über das Leben hier und jetzt hinaus weist.
Am Rand des Grabes bringen mich diese Worte aber auch selbst an den Rand. Keiner stirbt sich selber. Auch wenn hier alles abreißt an Leben, an Träumen, an Plänen – der Faden zu Gott reißt nicht ab.
Am Sterben bleibe ich hängen, wenn ich diese Worte höre und spreche. Angesichts des Todes wird deutlich: wir verdanken uns und unser Leben nicht uns selbst, es ist uns entzogen. Deswegen ist dies keine gemütliche Sorgloserkenntnis. Sie zwingt mich auch zur Erkenntnis meiner Grenzen. Wir sind des Herrn – ob wir leben oder ob wir sterben.
Hart und schmerzlich wie es ist geht vom Sterben eine Faszination aus. Es lässt uns nicht los. „Aus die Maus“ lautet der Titel einer Sammlung ungewöhnlicher Todesanzeigen, die im letzten Herbst erschien und während 23 Wochen unter den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerlisten war. Die Fortsetzung „Wir sind unfassbar“ ist bereits erschienen und erfreut sich ebenfalls reißendem Absatz. Den Schrecken des Todes wegschmunzeln – ein geradezu österliches Unterfangen.
In den Kinos ist derzeit die Geschichte Tiziano Terzanis zu sehen.
Vor seinem Krebstod hat der Auslandskorrespondent des SPIEGEL lange Gespräche mit seinen Kindern über Leben und Sterben geführt. Im Film wird mir ein Mensch vor Augen geführt, der angesichts des nahenden Todes ruhig und gelassen ist. In der Überzeugung „Das Ende ist mein Anfang“ kann er zu seiner Tochter Saskia sagen: „Weißt du, man stirbt, weil man geboren wird. Wenn man jung ist, denkt man immer, der Tod treffe nur die anderen. Aber er ist ein Teil des Lebens. Um das zu begreifen, musst du nicht gleich sterben, du kannst ruhig 100 Jahre alt werden – Hauptsache, dir ist bewusst, dass dein Leben und dein Tod letztlich dasselbe sind.“
Nicht immer, ja vielleicht nur in den seltensten Fällen, gibt es dieses wohlvorbereitete Sterben, auf das einer gelassen zugeht, nachdem er alles mit seinen Lieben geklärt hat.
Keiner stirbt sich selber! Das heißt auch, dass ich entlastet bin vom Zwang, selbst mein Sterben schön und nach allen Regeln der Sterbenskunst zu gestalten.
Das eine ideale Sterben gibt es nicht.
Und es gibt auch nicht das eine, ideale Leben, das in höchster Perfektion zu erlangen ist. Leben und Sterben sind mehr. Auch mehr als das, was ich gestalten und machen kann.
Auf jeden Fall aber gehören Leben und Sterben zusammen und sind unter dem großen Bogen aufgespannt, den Paulus zieht. So geht es um das Leben, um das volle, pralle, manchmal unendlich komplizierte Leben.
Es geht um die großen Fragen auch in meinem kleinen Leben. Vor allem um sie.
Worum geht es im Leben wirklich? Was ist wirklich wichtig und worüber kann im Zusammenleben von Christinnen und Christen geflissentlich hinweggeschmunzelt werden?
Die Worte des Apostels stellen unser Leben und unsere Füße auf einen weiten Raum. Er hat ein feines Gespür für unsere Sehnsucht, die Unsicherheiten des Lebens und des Glaubens irgendwie zu bändigen. Irgendwie zu Sicherheiten zu kommen, die ich in der Hand haben kann und die mir Halt geben.
In Rom hatten sie sich darüber gestritten, ob es zum Glauben gehört, sich an bestimmte Speisegebote zu halten oder nicht. Ein heimlicher Wettkampf darüber, wer denn nun stark und schwach im Glauben sei.
Mir kommt eine Szene aus den Anfangszeiten meines Studiums in den Sinn. Im Remter, der kleinen Mensa der KiHo in Bethel, traf man sich zum Mittagessen.
Munter plauderte es sich in der Schlange an der Essensausgabe, die Teller wurden gefüllt, ein Platz anvisiert. Die einen senkten den Kopf zum stillen Innehalten, andere falteten deutlich wahrnehmbar, beinahe bekenntnishaft, die Hände und sprachen ein Gebet – wieder andere fingen direkt an zu essen.
„Wie, du betest nicht vor dem Essen?“ Peinlich berührt fragten sich plötzlich die Vor-dem-Essen-Nichtbeter ob sie fromm genug waren für das Theologiestudium. Ich gehörte zu letzteren. Eine betretene Situation.
Wo sich im kleinen Raum einer Wohnheimküche verschiedene Frömmigkeitsstile treffen, gewinnen die Worte des Apostels besondere Relevanz.
In Glaubensdingen geht es nicht um Exzellenzcluster und Elite, nicht darum, die Nase vorn zu haben, eben nicht darum, sich selber als den Stärksten zu erweisen.
Es geht um Sinn und Geschmack für das wirklich Wichtige. Wir sind des Herrn. Komme, was wolle – auf diesem Boden, in diesem Raum können wir uns frei bewegen. Weil wir uns nicht uns selbst verdanken, sind wir auch befreit von dem Zwang, uns immer wieder selbst als die Macher unseres Lebens zu erweisen. Wir sind uns selbst entzogen, haben uns nicht in der Hand. Weder im Leben noch im Sterben. Diese Erkenntnis bringt mich manchmal an den Rand und manchmal auf den Boden der Tatsachen.
Vor allem aber ist sie ungemein tröstlich, weil sie unbedingt festhält:
Wie auch immer wir leben, wir sind des Herrn.
Wie auch immer wir sterben, wir sind des Herrn.
Wohnst Du noch – oder lebst Du schon?
Das könnte auch über dem Eingang des Theologischen Studienhauses stehen. Hier geht es um mehr als einfach nur wohnen.
Unter dem Dach des Morata-Hauses hat das Leben mit all seinen Facetten Platz. Ob es die Auseinandersetzung mit anregenden Themen in Vorträgen ist, ob es die Diskussion von Fragen unserer Zeit und der Theologie in Arbeitsgemeinschaften ist, ob es das ausgelassene Feiern in der Bar oder das gemeinsame Singen und Beten in der Kapelle ist, oder das gemeinsame Ringen um die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Vor allem aber diese Erfahrung findet hier ihren Raum: was auch immer das Leben mir gerade abverlangt, ich werde damit nicht alleingelassen.
Es braucht solche weiten Räume des Lebens, die aufatmen lassen.
Die meine Füße getrost schreiten lassen und in denen die Gewissheit ein Gesicht bekommt:
Ob wir leben oder sterben,
ob wir unbeschwert feiern oder um die Ordnung in der Küche streiten,
ob wir miteinander diskutieren oder jemandem unser Herz ausschütten,
ob wir orientierungslos im Bachelordschungel umherirren oder genau wissen, wo es lang geht –
wir sind des Herrn.
Wir gehören nicht allein uns selbst, sondern wir gehören zur großen Schar derer, die unter dem offenen Himmel das große Freudenmahl feiern und das Leben empfangen, in Fülle und in unendlicher Vielfalt.
So können wir sicher wohnen und überreich leben.
So können wir des Himmels reichem Segen trauen, der höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.