09.04.2017: Prof. Dr. Adolf-Martin Ritter über Joh 17,1-8
Predigt über Joh 17, 1-8
am Palmsonntag 2017 in der Peterskirche zu Heidelberg
Prof. Dr. Adolf-Martin Ritter
Kanzelgruß: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. AMEN
Predigt.
Liebe Gemeinde.
Passionszeit. Etwas mehr als sechs Wochen lang begehen Christen jährlich die Passions- oder vorösterliche Fastenzeit. Was tun sie da? Spätestens am letzten Sonntag wurden die Besucher der Peterskirchengottesdienste von dieser Kanzel aus, und zwar in besonders eindrücklicher Weise, daran erinnert, was deren Sinn sei: Leiden, Sterben – und somit auch das Leiden und Sterben unseres Herrn an uns herankommen zu lassen: im Hören, im Beten und im Singen. Wer sich auf das Leiden – und somit auch auf Leiden und Sterben Jesu nicht einlässt, verbaut sich sein Ostern, das Fest der Auferstehung, die Macht des christlichen Glaubens. Wer Dunkelheit nicht erfährt, kann kaum die Kraft des Lichtes spüren. – Heute, an Palmsonntag, zu Beginn der Karwoche, nur eine Woche noch bis Ostern, ist es höchste Zeit, das einzulösen, damit Ernst zu machen. Unser Predigttext aus dem 17. Kapitel des Johannesevangeliums, dem sog. Hohepriesterlichen Gebet, will uns dabei behilflich sein. Ich lese die ersten acht Verse:
Solches redete Jesus und hob seinen Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; so wie du ihm Macht gegeben hast
über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte,die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Gebet: Herr, mach uns still – und rede Du. Amen.
Wir haben, liebe Gemeinde, im heutigen Gottesdienst bereits mit dem fröhlich-nachdenklichen Eingangslied (EG 314) an die Geschichte erinnert, die dem „Palmsonntag“ den Namen gab, die Geschichte vom „Einzug in Jerusalem“, wie ihn die Evangelien einhellig schildern. Schon das Lied hat uns den sprichwörtlich kurzen Weg vom „Hosianna“ zum „Kreuzige“ ins Gedächtnis rufen wollen. Nicht um den Wankelmut der Menschen von damals zu denunzieren – wie kämen wir dazu? Wo doch unsere Geschichte erzählt wird; wo uns schlagartig aufgehen müsste, wie nahe wir noch jetzt diesem sehnsüchtigen „Hosianna“ sind.
Im heutigen Sonntagsevangelium nach Johannes (Kap. 12) wird Jesu Einzug so dargestellt, dass ausdrücklich darauf Bezug genommen wird, wie Jesus Lazarus, den Bruder der beiden Frauen von Bethanien, Maria und Martha, von den Toten erweckte (V. 1. 10f.17f.). Ostern ist da zum Greifen nahe. Wie sollten sie ihm nicht zujubeln, damals? So viele Erwartungen, so viele „Zeichen“! Das alles wird von unserem Evangelisten derart in Szene gesetzt, dass die Erinnerung an die Propheten des Alten Bundes sich ganz wie von selbst einstellt. Wer Jesus begegnet, begegnet dem Heil der Welt. Es wird erfahrbar: hier redet einer nicht nur von Gott, sondern ereignet ihn. Mehr als Gott aber – kann es nicht geben. Mehr als Gott hat niemand von uns nötig; niemand! Das ist die Botschaft.
Dass dann doch alles ganz anders kommt, dass Hoffnung und Verzweiflung so nahe beieinander liegen – erkennen wir uns nicht auch darin wieder? Wir haben doch auch ein Bild in uns, wie wir uns die Nähe Gottes vorstellen. Und wenn sein Weg mit uns ganz anders verläuft, fremd, schmerzhaft, unbegreiflich – hält unser Glaube dann noch stand?
*
Scheinbar hat unser Predigttext mit dem allen nichts zu schaffen und darauf keine Antwort. Es ist der Anfang dessen, was seit langem „Das hohepriesterliche Gebet“ heißt und in unseren Bibeln, jedenfalls in meiner Luther-Bibel, auch so überschrieben ist. Es heißt darum so, weil es – der Sache nach – vom Entsündigungsopfer, von der Verkündung des göttlichen Willens und von der Fürbitte handelt, also den Aufgaben, die dem Hohenpriester des Alten Bundes beim Tempeldienst oblagen.
Vater, die Stunde ist da. Jesus geht in den Tod. Er hat Abschied genommen von seinen Jüngern, hat ihnen zum Schluss zugerufen: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden“ (Kap. 16, 33). Was jetzt noch zu sagen ist, sagt er Gott. Er betet. Dankend: alles was war, aus Gottes Hand nehmend, schaut er zurück. Bittend: alles, was kommt, in Gottes Hand legend, schaut er nach vorn.
Johannes – nur er – wagt es, diese Wende vom Leben zum Tod von innen her zu beschreiben. Er kennt – jedenfalls nach der mir einleuchtendsten Deutung – sehr genau die anderen Überlieferungen über die letzten Stationen und Tage des Erdenweges Jesu, stellt sie nicht in Frage, wohl aber in eine andere Beleuchtung und Perspektive. Das erinnert mich an den Anfang von J. S. Bachs „Johannespassion“, in stärkstem Kontrast zu seiner „Matthäuspassion“. Während hier der Eingangschor den Text interpretiert: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“, ist, seit der zweiten Aufführung im Nachmittagsgottesdienst des Karfreitags 1727, für den Beginn der Passionsmusik nach dem Evangelisten Johannes der Chorsatz vorgesehen: „Herr, Herr, Herr ..., dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist“. Das war kein Fehlgriff Bachs und noch viel weniger ein Gag; sondern es war ebenso wohlüberlegt wie wohlbegründet. Denn wo begegnete, nach Bachs Überzeugung zumindest, jene Zuwendung Gottes, von der der Psalmist spricht („Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass Du Dich seiner annimmst“?) in konzentrierterer Form als in dem, wovon die Leidensgeschichte Jesu erzählt? Darum heißt es auch im Eingangschor der „Johannespassion“ weiter:
Zeig uns durch deine Passion,
dass Du, der wahre Gottessohn,
zu aller Zeit,
auch in der größten Niedrigkeit,
verherrlicht worden bist.
So zieht Bach selbst eine Linie von dem Schöpfungspsalm (Ps 8) hin zur Leidensgeschichte Christi und nimmt damit eine Hauptaussage des Johannesevangelisten auf: Die schmähliche „Erhöhung“ am hochaufragenden Kreuz, von vielen – damals wie heute – aufgefasst als Demonstration des Scheiterns, enthüllt sich in Wahrheit als „Verherrlichung“ des Christus.
Das ist deshalb kein Widerspruch zu dem at.lichen Psalm, weil es unmittelbar vor den zitierten Versen heißt: „Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet, um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen“ (V. 3). Dieser Vers steht im AT, der „hebräischen Bibel“, vollkommen isoliert. Nicht so in unserer zweiteiligen Bibel. Zu denken ist – außer an das sog. „Kinderevangelium“ („Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht ...“) an die große Weltgerichtsrede (Mt 25) mit ihrem erschütternden: „Was ihr getan“ (bzw. „nicht getan) habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir“ (auch nicht) „getan“. Damit ist zugleich klargestellt, wer denn die „Feinde“ Gottes seien: die Feinde jener „Geringsten“ eben, die Feinde der „kleinen Kinder und Säuglinge“, die Feinde der „Versager“, der Zukurzgekommenen, der „Lebensunwerten“, derer, die sich nicht selbst helfen und wehren können.
Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue, sagt Jesus zu Gott. Und worin besteht dieses Werk? Dazu, so die Antwort unseres Textes, ist ihm, dem Sohn, Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die Gott ihm gegeben ha(s)t.
Das also ist, wenn wir es mit Johannes in einem Wort zusammenfassen dürfen, das Ziel aller Worte und Taten Jesu: ewiges Leben.
Ewiges Leben, nicht irgendwann einmal, sondern hier und jetzt, genau so wie der Beter des „hohepriesterlichen Gebetes“ um die Herrlichkeit, die er bei Gott hatte, bevor die Welt war, hier und jetzt bittet.
Gerade das Johannesevangelium weiß – reicher, anschaulicher und vor allem alltagsnäher – zu veranschaulichen, was das heiße: ewiges Leben jetzt, als alle unsere armseligen und formelhaften Redensarten. Drei Beispiele seien in Erinnerung gerufen: die Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1-11), auf der Jesus auf wunderbare Weise mit Wein aushilft, als es daran im unpassendsten Moment gebricht. Will sagen: Er schenkt Freude, weckt Mut, befähigt zur Liebe, wo es daran bitterlich mangelt; gibt unserem Leben Sinn, wenn es leer und sinnlos zu werden droht. Das ist – ewiges Leben jetzt. – Zweites Beispiel: das bewegende Nachtgespräch mit Nikodemus (im folgenden 3. Kap., Joh 3, 1-21), das diesem glaubhaft machen möchte, es gebe die Möglichkeit einer Neugeburt, selbst wenn der eine oder die andere schon uralt ist (V. 4), weil eben Gott die Menschenwelt so sehr geliebt hat, auf dass alle, wirklich „alle, alle, alle“ (wie H. Schütz in seiner herrlichen Motette das aufnahm), (auf dass alle,) die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (V. 16). – Drittes Beispiel: die Begegnung Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Kap. 4, 1-42), einer Frau – nicht mehr ganz jung, aber immer noch lebenslustig. Er bittet sie um einen Schluck Wasser, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, und bietet ihr Wasser an, das allen Durst löscht. Ewiges Leben jetzt.
Das ist, denke ich, gemeint, wenn in unserem Text von der Verherrlichung des Namens Gottes durch Jesus gesprochen wird: dass er in scheinbar ausweglosen Situationen neue Horizonte eröffnet und zum Lob Gottes auch und gerade „in der Tiefe“ (De profundis) ermächtigt und befreit.
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Ein Schlußgedanke: Vor einiger, aber nicht allzu langer Zeit habe ich ein wunderschönes Buch geschenkt bekommen; so dick, aber so bewegend und spannend, dass ich schier nicht davon loskam, auch wenn ich es beileibe nicht in einem Zuge zuende lesen konnte. Es handelte sich um die – vorzügliche – Ausgabe der „Briefe und Schriften oberdeutscher Täufer 1527-1555“, gesammelt im sog. „Kunstbuch“ des Jörg Rothenfelder gen. Maler“ (ohne h). Den Täufern, also den Verfechtern der „Glaubenstaufe“ anstelle der Säuglingstaufe, die ihnen ein Greuel war, ist ja besonders, aber nicht nur im 16. Jh. schweres Unrecht und Leid widerfahren, nicht nur von Seiten der sog. „Papisten“, sondern gerade auch evangelischer Glaubensgeschwister. Es erwies sich bei der Lektüre, dass – trotz Verfolgung und Not – eines ihrer immer wieder zitierten Lieblingsworte aus der Bibel der Vers war, der auch im Mittelpunkt unseres Predigttextes steht: Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Und mir ging auf: Genau so, wie man sich wahrscheinlich die Verfolgungssituation der frühchristlichen Gemeinde vor Augen halten muß, um etwas vom ursprünglichen „Sitz im Leben“ des Johannesevangeliums und seiner „hohen Christologie“, auch seiner ganz eigentümlichen Deutung der Passion als „Verherrlichung“ zu erahnen, genau so sind es wohl besonders die Zeiten, in denen Jesu Jünger „gesiebt werden wie der Weizen“ (Lk 22, 30-34), in denen die volle Wahrheit dessen aufleuchtet, was in unserem Text gesagt ist, und alles seine Stimmigkeit bekommt: Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Nicht um Dogmatik geht es hier in erster Linie, nicht um Dogmen (wie das der Vorherbestimmung, der Prädestination, beispielsweise), sondern um Doxologie, um Anbetung, um die beseligende Erkenntnis: Gottes zu sein und einem Ruf zu folgen, der nicht einer Laune des Schicksals sich verdankt, aber auch nicht eigenem Wollen, Laufen und Wünschen, sondern der der „Ewigkeit“, dem Herzen Gottes entspringt.
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Ob wir das glauben können? Dass eben das ganze Drama der Passion Jesu darauf abzielt, dass Gott und seine Kinder wieder zueinander finden, Verherrlichung leben gegen den Tod, Liebe inmitten einer Welt des Hasses und der Gewalt? Ob wir das glauben können?
Im weiteren Verlauf des „hohepriesterlichen Gebetes“ wird Jesus für seine Freunde bitten, seinen Vater bitten, dass er sie in eben diesem Glauben stärke und erhalte, damit ihr Leben eine Perspektive habe über Sterben und Tod hinaus; dass Gott sie in diesem Glauben erhalte.
Diese Bitte schließt gewisslich auch uns ein, damit wir allen Zweifeln und Fragen zum Trotz glauben können: Gott selbst ist’s, der Jesus Christus gesandt hat zur Erlösung der Welt.
Kanzelsegen. Und der Friede Gottes ...