10.04.2011: Dr. Heike Springhart über Gen 22,1-14

 

Erschütterungen

Predigt über Gen 22,1-14 im Universitätsgottesdienst am Sonntag Judika, 10.4.11, in der Peterskirche Heidelberg

 

Predigerin: Dr. Heike Springhart (Wiss.-theol. Seminar, Theol. Studienhaus)

 

 

Liebe Gemeinde,

 

über „das Dilemma des Menschenopfers“ wird wieder diskutiert (SZ 17.03.2011).

Fukushima im März 2011. Sind die Männer, die im Block 1 des Atomkraftwerks dort seit Wochen höchster Strahlung ausgesetzt sind bei dem Versuch, um noch Schlimmeres zu verhindern, Helden oder Menschenopfer?

Als die Betreiberfirma Tepco die letzten Arbeiter abziehen wollte, hat der japanische Präsident dies untersagt. Die 50 Männer von Fukushima – zu Helden stilisiert und doch sehenden Auges geopfert. Vermutlich wissen viele davon gar nicht so genau, was sie da eigentlich tun und welchen Gefahren sie ausgesetzt sind.

Weit weg und mit ein paar Wochen Abstand lässt sich darüber in den Gazetten leicht diskutieren. Opfergeschichten jedoch eignen sich nicht für entspannt-philosophische Diskurse über Dilemmata.

Opfergeschichten konfrontieren uns mit dem Unsäglichen, manchmal gar mit dem Unsagbaren. Was da geschieht, entzieht sich dem Bereich von Logik und Abwägung.

Opfergeschichten sind Geschichten von Erschütterungen und Sprachlosigkeit. Nicht nur in Japan.

 

Mit einer anderen Geschichte von Erschütterung sind wir heute Morgen konfrontiert. Einer Geschichte, die beredt von bedrückendem Schweigen getragen wird. Eine Geschichte, die am Ende ohne Opferung auskommt und doch Opfer hinterlässt.

Ich lese diese Geschichte aus dem 22. Kapitel des 1. Buches Mose (Gen 22,1-14):

 

Gott prüfte Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: „Hier bin ich.“ Und er sprach: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“

Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel

und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak

und spaltete Holz zum Brandopfer,

machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.

Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf

und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten:

„Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.“

Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer

und legte es auf seinen Sohn Isaak.

Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand;

so gingen die beiden miteinander.

Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: „Mein Vater!“

Abraham antwortete: „Hier bin ich, mein Sohn.“

Und er sprach: „Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?“

Abraham antwortete: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Und die beiden gingen miteinander.

Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.

Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: „Abraham! Abraham!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“

Er sprach: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“

Da hob Abraham seine Augen auf

und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«.

Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht.

 

 

Nach der Reise ins Land Morija und auf jenen Berg ist nichts mehr wie es war. Für Isaak nicht, für Abraham nicht, möglicherweise auch für Gott nicht.

Es wird nur wenig gesprochen. Und fast hat man den Eindruck, dass noch weniger gefühlt wird. Geradezu einsilbig klar empfängt Abraham von Gott den unsäglichen Auftrag. Nimm deinen Sohn – geh nach Morija – opfere ihn. Ihn, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast. Den, den du und Sarah so lange ersehnt habt, für den du den erstgeborenen Ismael und die Leihmutter Hagar verstoßen hast. Opfere ihn auf dem Berg.

Und Abraham schweigt. Abraham, der sich sonst nicht scheute, Gott an seine Gerechtigkeit zu erinnern und um das Leben der Gerechten in Sodom zu feilschen – er schweigt. Und funktioniert. Erstarrt vielleicht innerlich, aber äußerlich tut er was er tun zu müssen glaubt.

Minutiös steht es uns vor Augen. Knapp und klar die Abfolge. Er stand auf, er gürtete seinen Esel, er nahm seine zwei Knechte und Isaak, er spaltete Holz für das Brandopfer, er machte sich auf den Weg. Drei Tage gehen sie. Drei Tage, die für uns im Dunkeln bleiben, sprachlos, schweigsam. Erstarrt und emotionslos. Als er den Berg vor sich sieht, bricht er das Schweigen und bittet seine Knechte mit dem Esel zurückzubleiben. Knapp und ohne viel Aufhebens.

Auch Isaak schweigt. Jetzt wo der Lastesel zurückgeblieben ist, muss er die Lasten und das Brandholz tragen. Schweigend gehen sie weiter, Vater und Sohn.

Warum muss ich so traurig gehen? Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Ob Abraham sich das gefragt hat? Wir wissen es nicht. Selbst als Isaak das Schweigen bricht, vielleicht Böses ahnt, weicht Abraham aus. Sie gehen beide weiter, Schritt für Schritt, ein fataler Anstieg.

Und auch oben auf dem Berg funktioniert Abraham. Von keiner Regung erfahren wir etwas. Er baut einen Altar, schichtet das Holz auf, bindet seinen Sohn, legt ihn auf den Altar, erhebt die Hand mit dem Schlachtmesser.

So steht er da. Bereit zu opfern, was ihm am liebsten ist. Seinen Sohn. Bereit zu opfern, was für ihn Zukunft und Leben ist. Weil es so sein muss. Weil es von ihm verlangt ist. Einem bedrückend schweigsamen und starren Zwang folgend. Sehenden Auges und doch blind.

Das Bild des aufrechten Glaubensvorbilds ist getrübt und erschüttert. DAS würde er tun? Und doch: ein schonungslos realistischer Abraham begegnet mir da oben auf dem Berg Morija.

Das ist nicht nur eine Geschichte aus alter und ferner Zeit. Auch diese abgründige Geschichte ist eine Urgeschichte des Menschseins. Opfergeschichten wie diese geschehen auch heute.

 

Wo Mädchen und Jungen belastet werden mit dem Druck, die Wünsche und ungelebten Träume der Eltern zu erfüllen.

Wo Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht werden und ihre Seelen gebrochen. Und wo auch ein Jahr nach dem Aufdecken der Missbrauchsfälle gilt, dass ein Kind siebenmal von einer Missbrauchserfahrung erzählen muss bis man ihm glaubt.

Wo Familien in Japan verzweifelt ertragen müssen, dass ihre Väter und Söhne in Fukushima ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen.

 

Was bin ich bereit zu opfern, weil die Verhältnisse es von mir verlangen?

Zu opfern an Gesundheit, weil keine Zeit dafür ist, sie zu pflegen.

Zu opfern an freien Zeiten zum Aufatmen und für Partner und Familie, Freundinnen und Freunden – auf der beständigen Jagd nach Exzellenz und Erfüllung von deadlines, nach Promotionsangeboten und Bestnoten.

Zu opfern an Idealen, weil allein die Macht des Faktischen zählt.

Oben auf dem Berg in Morija stehe auch ich gelegentlich mit gezücktem Messer. Bereit das zu opfern, was mir Zukunft und Leben verheißt. Das, woran mein Herz hängt und was mein Herz aufgehen lässt. Um zu funktionieren. Um Erwartungen zu erfüllen. Um nicht zu versagen.

 

Als alles vorbei zu sein scheint, auf dem Berg in Morija, da geschieht das Unerwartete. Das tödliche Schweigen wird gebrochen. Abraham! Abraham! Leg deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts.

Wo sich alles zugespitzt hat, tödlich und alternativlos – da eröffnet sich eine neue Perspektive. Der Widder in der Hecke macht es möglich, dass Abraham das Opfer zu Ende bringt – und dass Isaak doch am Leben bleibt.

Ein klarer Einspruch des Himmels richtet sich gegen die taube Opferbereitschaft, gegen die Bereitschaft, das, was mir lieb und teuer ist zu opfern, weil die Verhältnisse es fordern.

 

Noch immer bleibt Abraham für uns emotionslos. Ob er erleichtert war? Bestätigt darin, dass Gott alles doch zu einem guten Ende bringen wird? Beschämt, weil er zu diesem Opfer fähig gewesen wäre? Wir erfahren es nicht. Nur dies: Abraham nannte die Stätte „Der Herr sieht.“

Er sieht auch die, denen es die Sprache verschlagen hat. Die einfach nur noch funktionieren. Denen nichts übrig bleibt als immer nur bergan zu gehen.

 

Damit ist nicht einfach alles gut. Lange dunkle Wege, in denen Menschen angesichts des Übermaßes an Leid und Schmerz erstarren und verstummen, führen nicht nur nach Morija. Sie führen auch nach Sendai und Fukushima. Sie führen in die Kliniken und Krankenzimmer zu Menschen, deren Leben nach einer Diagnose von einem Tag auf den anderen in Frage steht. Lange dunkle Wege von einer Chemo zur nächsten. Die wenigsten Leidenswege kommen nach drei Tagen schon an ein gutes Ende. Manche nie.

 

Auch auf dem Berg in Morija findet keine erleichterte Umarmung von Vater und Sohn statt. Es bleibt etwas zurück. Nichts ist mehr wie es war. Abraham kehrt allein zu seinen Knechten zurück. Obwohl er ihn nicht getötet hat, hat er seinen Sohn verloren. Seelenmord.

Es ist ein verhaltenes happy end. Schweigend und allein geht Abraham den Berg wieder hinunter.

Als wenig später Sarah stirbt, kann Abraham wieder Klagen und Weinen. Als er sie in der Höhle von Machpela zu Grabe trägt, findet er angesichts des Todes zur Lebendigkeit zurück.

Aber: es bleibt etwas hängen dort oben auf dem Berg in Morija. Es bleibt auch die Erschütterung über Abrahams und meine Fähigkeit, das Leben und die Zukunft zu opfern – und die Erschütterung über einen Gott, der das riskiert.

 

Auf Golgatha nimmt Gott schließlich das Leid der Welt auf sich, geht selbst die fremden und dunklen Wege. Riskiert sich an die Welt – mit allen Konsequenzen.

Der Sohn Gottes erleidet das Schweigen und das Dunkel. Auch hier währt das Dunkel drei Tage. Dunkel, das schonungslos und beschämend die Verstrickungen von Menschen gegen Menschen aufdeckt. Bis ans bittere Ende. Ein Ende, in das am Ostermorgen jedoch auch der Einspruch des Lebens erklingt. Ein Ende, das einen neuen Anfang in sich trägt.

Isaak wurde zum Urvater Israels.

Aus dem Holz des Kreuzes wächst neues Leben und Hoffnung.

 

Der Einspruch Gottes für das Leben füllt unsere leeren Hände und Seelen mit seinem Frieden. Einem Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

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Letzte Änderung: 29.10.2013
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