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21.11.2012: Dr. Heike Sprinhart am Buß- und Bettag 2012

 

In Sack und Asche!? – Predigt im ökumenischen Gottesdienst zum Buß- und Bettag 2012

Dr. Heike Springhart

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus.

 

Liebe Schwestern und Brüder aus den verschiedenen christlichen Wohnheimen und Studierendengemeinden, liebe Gemeinde,

 

„Gäbe es die letzte Minute nicht, so würde nie etwas fertig.“ Auf den letzten Drücker und unter dem drohenden Ticken der letzten Minute verdichten sich nicht nur Referate und Hausarbeiten. Angesichts der letzten Minute in einer Beziehung, auf einer Reise oder gar in einem Leben tritt zutage, was wirklich wichtig ist, was noch zu sagen ist, was mir noch im Magen liegt.

„Gäbe es die letzte Minute nicht, so würde nie etwas fertig.“ –diesen klugen Satz sagte Mark Twain, der als Europareisender auch einst durch Heidelberg kam. Er zog über Marktplätze und an Flüssen entlang und hinterließ der geneigten Leserschaft vergnügliche Einblicke. In Heidelberg stellte er fest: Der deutsche Student "besucht nur diejenigen Vorlesungen, die seinem erwählten Fachgebiet entsprechen, und den Rest des Tages hindurch trinkt er sein Bier, zerrt seinen Hund umher und lässt es sich allgemein gut gehen".

 

Was bei Mark Twain eine erheiternde Beobachtung ist, klingt bei einem anderen auf einem anderen Marktplatz ganz anders: Jona liest den Menschen in Ninive auf dem Marktplatz gründlich die Leviten – und setzt sie unter Zeitdruck. Und da geht es um mehr als um Bier und Hunde. Noch 40 Tage bleiben den Menschen von Ninive vor dem Untergang. 40 Tage Zeit zur Besinnung, zur Buße. Jona rüttelt sie auf. Ich stelle mir den donnernden Bußprediger vor – den es selbst am meisten vor diesem Auftritt graute. Nicht umsonst. Denn wer lässt sich schon gern den Spiegel vorhalten. Wer lässt sich schon von anderen sagen: Du hast hier komplett versagt. Du hast einfach weggesehen, als Du hättest eingreifen sollen. Du hast geschwiegen, wo ein klares Wort angesagt gewesen wäre. Du hast einen anderen tief verletzt. Du hast gedacht: warum immer ich? Sollen doch die anderen mal ran.

 

Heute sind es noch 30 Tage bis zum 21. Dezember – für manche der mutmaßliche Weltuntergang. Für uns hier mehr ein Phänomen der Internetverschwörungstheorien – und für einen Moment ein Gedankenexperiment. Was, wenn Jona nicht in Ninive, sondern hier in Heidelberg stünde. Wenn er sagte: Du hast noch 30 Tage Zeit. 30 Tage vor der letzten Minute. Soviel ist klar: von außen gemalte Horrorszenarien bringen mich nicht dazu, in mich zu gehen. Von außen verordnetet Buße – und sei der öffentliche Druck noch so groß – verliert ihre Tiefe. Mehr noch: derjenige, der anderen den Spiegel vorhält, läuft selbst immer in Gefahr, der Selbstgerechtigkeit zu verfallen.

 

Aber: wenn die Zeit absehbar wird und das Ende in den Blick kommt, verdichtet sich das Leben. In solchen Zeiten frage ich mich stärker als sonst: was ist eigentlich wirklich wichtig in meinem Leben? Was bleibt noch zu sagen? Wenn ein Abschied ansteht und eine intensive Zeit zu Ende geht. Wenn eine Freundin dem Sterben entgegengeht. Wenn eine Beziehung vor dem Scheitern steht.

 

Hier und heute stehen wir nicht unter Zeitdruck. Nicht auf den letzten Drücker, sondern heilsam ausgebremst mitten in der Woche durch den Buß- und Bettag. Zur Besinnung gebracht.

 

Der Lack ist ab, der schöne Schein und der edle Zwirn auch – der König in Ninive legt seinen Purpur ab und kleidet sich in einen Sack. Eingehüllt in das grobe Gewand sitzt er auf dem Boden, in der Asche. Das ist zuerst und vor allem ein Akt der Trauer. Wie oft hat Buße etwas mit dem Gefühl zu tun: es ist zu spät! Zu spät, die Wunden sind geschlagen. Zu spät, das schnelle und scharfe Wort ist gesagt. Zu spät, die Beziehung ist zerbrochen. Zu spät, der Freund ist tot – es gibt keine Gelegenheit mehr zu reden. Aus welchen Fäden ist mein Sack der Buße gewebt?

Buße tut weh und Buße ist sichtbar. Nur selten an der Kleidung in unseren Tagen, aber auf jeden Fall an den Folgen. An einem Schritt neu auf den anderen zu.

 

„Wer weiß?“ – sagt der König in Ninive. Wer weiß – vielleicht ist es ja doch noch nicht zu spät. Auch das ist Buße: einem hoffnungsvollen „Wer weiß?“ Platz einräumen. Wer weiß – vielleicht schafft ein Wort einen neuen Anfang. Wer weiß – vielleicht ändert sich mein Blick auf meine Großmutter. Wer weiß – vielleicht sehe ich hinter der Japanerkamera ja doch die Augen eines sehnsüchtigen Menschen. Wer weiß – vielleicht gelingt es ja doch, mit alten Wunden zu leben. Wer weiß – vielleicht wendet sich Gott mir wieder spürbar zu, wo ich ihn so fern glaubte. Wer weiß?

 

Buße hat nie nur mit mir selbst zu tun. Sie bewegt auch etwas in meinem Gegenüber. Mehr noch: Buße und die Bitte um Vergebung gehören zusammen. Großherzige Bußbekenntnisse verhallen, wenn sie nicht mit dem Satz: „Ich bitte dich um Vergebung.“ verbunden sind. Buße und Vergebung ist ein Beziehungsgeschehen.

Das gilt für Menschen – und es gilt auch für Gott.

 

In Ninive ist etwas von der Reue Gottes zu spüren. Er sieht die Zerknirschung der Leute von Ninive und ihn reut der angekündigte Untergang. Ninive geht nicht unter. Es gibt eine Zukunft auch jenseits der 40 Tage. So wie es nach den 40 Tagen der Sintflut die Besinnung Gottes darauf gibt, dass es zum Menschen, zu seinen Menschen, gehört, dass sie nicht nur nach dem trachten, was gut ist und dem Leben dient.

 

Das Ringen um Buße und Vergebung kann dauern und braucht Zeit. Das Gleichnis vom Feigenbaum, das wir gehört haben, spricht Bände. Drei Jahre hatte der Winzer den Feigenbaum in seinem Weinberg gehegt und gepflegt. Drei Jahre lang hat er versorgt. Beraten, sich auf einen Kaffee nach dem anderen getroffen. Immer wieder gut zugeredet. Zugehört und mitgeweint. Ihm ins Gewissen geredet und aufgerüttelt. Ihm Hilfe angeboten und einfach schweigend mit ihm gegangen. Nichts hat sich bewegt. Dennoch, als das Maß voll war, hat sich der Weinbergbesitzer zum Anwalt der Hoffnung gemacht. Gib ihm noch ein Jahr! Ein Jahr der Verheißung. Noch ein Jahr Hoffnung, noch ein Jahr Zeit zur Veränderung, noch ein Jahr Freiraum, um das Nötige zu sagen. Noch ein Jahr, um herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist im Leben, worauf es ankommt, was zählt.

 

Buße braucht Zeit. Wo es um Buße geht, geht es ums Ganze. Da steht Schuld im Raum, tiefe Verletzungen und Wunden. Nicht jeder Fehler, den ich ihm Leben mache, zieht unbedingt Buße nach sich. Fehler gibt es, die ziehen zwar Strafzettel nebst Bußgeld nach sich, aber sie gehören dazu. Wenn es aber geschieht, dass Schuld im Raum steht, dass tiefe Verletzungen die Beziehungen von mir zum anderen bestimmen, dass mich nicht die Liebe, sondern die Gewalt bestimmt hat und dass ich das Leben und die Seele von anderen verwundet habe, dann geht es um Buße.

Dann, wenn in unserem Leben so gar nicht sichtbar ist, dass wir Trägerinnen und Träger der Hoffnung sind. Wenn also die Beziehung zu Gott einschneidend gestört ist.

 

Auf dem Weg zur Buße ist das erste: der ehrliche Blick auf mich selbst. Der ehrliche Blick auf das, was ich selbst am liebsten nicht sehen will. Auf das, wovor ich mich am liebsten verkriechen würde wie Jona im Bauch des Fisches.

 

Jeder von Euch hat eine Karte bekommen. Nehmt sie in die Hand. Wagt einen Blick in den Spiegel. Dieser Spiegel ist anders als der grell beleuchtete Badezimmerspiegel von heute morgen, der jede Falte, jede Unreinheit und jeden Augenring gnadenlos offenbart hat.

Ich sehe mich – aber irgendwie fremd. Ich sehe mein Gesicht unscharf, verzogen. Ich sehe es durchzogen von Linien und Rissen. Scharfe Kanten der Scherben, die den Spiegel bilden.

Linien, die die Abbrüche meines Lebens widerspiegeln: abgebrochene Beziehungen, enttäuschte Hoffnungen, falsche Fährten, auf die ich mich gesetzt hatte.

 

Kanten, die die Verletzungen widerspiegeln: das schnell hingeworfene ironische Wort, die scharfe Verurteilung des anderen, weil mir sein Lebensstil, seine sexuelle Orientierung oder seine Art zu glauben fremd ist.

 

Ich sehe mich – und ich sehe beides: die Verletzungen, die ich anderen zugefügt habe und die Wunden, die ich in mir trage.

 

Ich sehe mich – und ich sehe beides: die Schuld, die ich durch mein tägliches Leben hier im wohlsituierten Heidelberg auf mich lade an der Supermarktkasse, bei H&M, im Café. Und die unausweichlichen Strukturen, die mich gefangen halten und aus denen ich nicht entfliehen kann.

 

Ich sehe noch einmal in den Spiegel – ich sehe die Splitter, in denen sich mein Gesicht spiegelt.

 

Kein Splitterhaufen, sondern ein Spiegel, der gehalten ist.

Ich (die Betrachterin) zerbrochen in der Tiefe,

gehalten durch das Kreuz.

 

Da wird der Blick auf die Brüche meines Lebens zur Befreiung.

Manchmal in letzter Minute – und irgendwann so, dass alles vollendet sein wird.

Es gibt sie, diese letzte Minute, in der alles auf den Punkt kommt und zu einem guten Abschluss.

 

Ich kann den Blick auf die Brüche meines Lebens wagen, weil ich weiß: ich werde gnädig angesehen.

 

Ich kann diesen Blick und die Buße wagen, weil ich weiß: wenn ich umkehre und die Richtung wechsle, laufe ich nicht ins Leere, sondern Gott in die Arme. In die Arme dessen, der mich segnet und mir Kraft und Mut zum Weitergehen schenkt.

 

Ich kann es wagen, weil da einer ist, der meine engen Grenzen in Weite wandelt.

Eine, die meine ganze Ohnmacht in Stärke wandelt.

Einer, der mein verlornes Zutraun in Wärme wandelt.

Eine, die meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit in Heimat wandelt.

So kann ich es wagen – und genau das tun: singen und das Gott in die Ohren und ans Herz legen, was mich schmerzt, beugt und lähmt.

Gott sein Dank.

Amen.

 

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Letzte Änderung: 23.05.2018
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