26.04.2009: Dr. Heike Springhart über Joh 10

Liebe Gemeinde,

es waren sonnige Frühlingstage wie wir sie in diesen Tagen erleben.

Nach dem langen Winter durften wir Kinder endlich wieder nach draußen zum Spielen, ließen uns durchs frisch grüne Gras die Schwarzwaldhänge hinunterrollen, buddelten mit den bloßen Händen im Sandkasten und bauten Landschaften voller Kinderträume. Unbeschwerte Frühlingsidylle. Heute vor 23 Jahren fand diese Idylle ein jähes Ende.

Von einem Tag auf den anderen lauerte in grünen Auen unsichtbare Gefahr. Die Idylle wurde trügerisch. Nur noch eine halbe Stunde pro Tag durften wir draußen spielen. Aus frischem Frühlingsregenwasser wurde gefürchteter fallout – Regen aus der radioaktiven Wolke, die sich über Skandinavien nach Deutschland und Frankreich bewegte. Regen, der felderweise Salat ungenießbar werden ließ und Wiesen verseuchte. Statt frischer Milch vom Bauern gab es jetzt H-Milch – gehortet in Tüten, deren Abfülldatum vor dem 26. April 1986 lag.

Worte wie Plutonium, Cäsium, Becquerel und Strontium erweiterten unseren Wortschatz, auf dem Fensterbrett unseres Esszimmers tickte ein Geigerzähler und machte das Unerhörte und kaum Begreifbare hörbar. Ende einer Idylle.

An jenem 26. April 1986 endete ein ambitionierter Sicherheitstest unter der Leitung eines ambitionierten russischen Kernphysikers mit der Katastrophe. In Tschernobyl explodierte ein Atomreaktor.

Aus grünen Auen der Ukraine wurde eine 30 km breite Todeszone. Bis heute unbewohnbar. Wenige Jahre später wird der wissenschaftliche Leiter der Aufräumarbeiten, Wladimir Tschernosenko, selbst gezeichnet von den Folgen der radioaktiven Verstrahlung anprangern, dass hunderttausende Menschen als sogenannte „Liquidatoren“ herdenweise bei den Aufräumarbeiten durch die Todeszone getrieben und in den sicheren Tod geschickt wurden. Wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden.

Ende einer Idylle – so lässt sich auch die Herausforderung beschreiben, vor die uns die Rede vom guten Hirten stellt. Zu verführerisch ist die Hirtenrede Jesu für unsere Phantasie. Wir haben sie vorhin gehört.

Unweigerlich entsteht ein Wohnzimmergemälde vor meinem inneren Auge: ein Hirte mit lässigem Schlapphut lehnt sich auf seinen langen, geschwungenen Hirtenstab und blickt versonnen über die Weiten grüner Auen. Um ihn herum grasen friedlich Schäfchen.

Idyllische Szenen wölken sich auf. Bilder vom geruhsamen Schäferleben, vom Schäferstündchen, liebliche Szenen, in die sich gestresste Großstädter bei schönem Frühlingswetter mit süßen, reinlichen, woll-weißen und flauschigen Schäfchen flüchten.

Aber: lassen wir uns nicht täuschen von solchen idyllischen Phantasiebildern. Die Schäferei ist und war ein raues Geschäft. Hirten waren raue Gesellen, rangierten irgendwo zwischen Arbeitslosen und Gesindel, jedenfalls am Rand der Gesellschaft und am Rand des Existenzminimums. Statt Schäferstündchen mussten sie ihre Herde hüten – in der sengenden Hitze wie im prasselnden Unwetter, natürlich auch im gefährlichen und unheimlichen Dunkel der Nacht.

Im rauen Gewerbe der Schäferei bedeutete jedes einzelne Schaf bares Geld. Umso mehr mussten die Hirten aufpassen, dass keines ihrer Schafe gestohlen wurde. Oder schlimmer noch: dass ein dummes Schaf gar hinter dem falschen Hirten herlief.

Der gute Hirte kennt seine Schafe, jedes einzelne. Er weiß, dass seine Herde keineswegs eine uniforme Masse ist, die stumpf und lammfromm hinter ihm herdackelt. Der gute Hirte kennt die leisen und zaghaften Regungen seiner Schäfchen ebenso wie das laute Geblöke derer, die sich zum Leithammel machen wollen. Er kennt die Schafsköpfe und die schwarzen Schafe, die frommen Lämmer und die bockigen Widder. Er kennt sie alle. Er hat sie bei ihrem Namen gerufen.

Ganz anders der Zeitarbeiter, der angeheuerte Mietling. Der Schafe hütet, die ihm nicht gehören. Weil er das Geld braucht. Für ihn sind die Schafe nur Schafe. Schaf ist Schaf, ob eines verloren geht oder ausreißt, welche Rolle spielt das schon? Die Herde ist ja groß genug. Das einzelne Schaf zählt für den Mietling nicht. Wenn er Gefahr aufziehen sieht, dann rettet der Mietling in erster Linie seine eigene Haut. Wird mit einer ordentlichen Abfindung seines Chefsessels enthoben. Lässt andere die Aufräumarbeiten in der Todeszone machen. Überlässt die Schafe ihrem Schicksal, sollen sie sich doch zerstreuen!

 

 

 

Soweit, liebe Gemeinde, könnte das alles immer noch die Beschreibung eines mehr oder weniger idyllischen und harmonischen Schäfergemäldes sein.

Seine Schärfe und seine Kontur erhält das Bild, erhält die Hirtenrede dadurch, dass da nicht von irgendeinem Schäferstündchen und von einer Anleitung für das rechte Hirtenwesen die Rede ist, sondern dass es Christus selbst ist, der von sich sagt: Ich bin der gute Hirte.

Christus selbst geht in die Niederungen dieser rauen Gesellen ein. Nicht zufällig sind es Hirten, die als erste von der Geburt Jesu hören. Abgerissene Gestalten, die mit den Härten des Lebens vertrauter sind als ihnen lieb ist.

Christus selbst übernimmt es, seine Herde zu weiden. Er selbst geht mit dieser Herde auch durch finstere Täler, rettet auch in der finsteren Nacht des Verrats nicht seine eigene Haut.

Die Herde, diese Ansammlung großer und kleiner Schafe mit mehr oder weniger weißem Fell, hört die Stimme des Hirten und folgt ihm. Sie kennen ihren Hirten und hören die Stimme aus dem Geblöke der Leithammel heraus. Noch nicht einmal das Raunen der Bedenkenschafe und das Getrappel der Lämmer vermögen die Stimme des Hirten zu übertönen.

Unter der Stimme des einen Hirten wird eine Herde aus der versammelten Schafhorde.

Aber Achtung: Eine Herde – ein Reich – ein Hirte…  - die Verführung zur falsch verstandenen Einheitsidylle ist groß.

Es gibt durchaus auch und gerade unter gestandenen Protestanten eine Sehnsucht nach einem Hirten zum Anfassen. Oder wenigstens zum fernsehgerecht Ansehen. Die Sehnsucht nach einem Gesicht des Protestantismus. Spätestens die herdenweisen Schlangen von Menschen, die sich 2005 vor dem aufgebahrten Papst Johannes Paul II. versammelten, um sich von ihrem Hirten zu verabschieden, ließen diese Sehnsucht wachsen. Eine verführerische Sehnsucht!

Aber: das Gesicht des Protestantismus sind seine Gesichter. Unter dem einen Hirten Jesus Christus sind alle Mitglieder seiner Herde Schafe: seien es Fromme oder Zweifler, EKD-Ratsvorsitzende oder Dorfpfarrerinnen, Erstsemester oder Professoren, Gebildete oder Verächter.

Wohlgemerkt: es bedarf profilierter und erkennbarer Gesichter des Protestantismus. Durchaus auch solche, die medien- und talkshowtauglich sind. Solche, die auf den Podien des Kirchentags ebenso klare und profilierte Worte sprechen wie solche, die dies auf den Kanzeln der großen Stadtkirchen und der kleinen Dorfkapellen tun. Und natürlich solche, die dies überzeugend und mit Begeisterung an den Kathetern und in den Seminaren der Universitäten tun.

Das Gesicht des Protestantismus, das sind seine Gesichter. Jedes Gesicht, das sich hier heute Morgen in der Peterskirche versammelt, ist das Gesicht des Protestantismus, besser noch: das Gesicht der Gemeinde Christi. Jeder ein Schaf. Ob ausgebuffter Leithammel oder braves Lämmchen, ob schwarzes oder weißes Schaf– die Herde ist bunt, aber es ist eine Herde aus Schafen.

Die Stimme des einen Hirten erhebt sich immer wieder kritisch gegen alle unsere Bemühungen, Führer mit absolutem Herrschaftsanspruch an unsere Spitzen zu stellen. Führer, die uniforme Einheit nach ihrem Gusto herstellen wollen, die in ihrer Herde nur solche Schafe wollen, die blind und lammfromm hinter ihnen herlaufen. Allzu leicht wird eine solche Herde zur gefährlichen Horde. Zur fanatischen Masse, die all jene auszuschalten versucht, die nicht ins Bild passen. Die ihre Schafe so genau kennen wollen, dass sie sie geheimdienstlich überwachen lassen. Ob nun mit Stasi oder moderneren Methoden, von denen behauptet wird, sie dienten der inneren Sicherheit oder der Überprüfung von Mitarbeitern der Bahn oder Lidl und Co.

Eine solche Einheitsherde bringt immer wieder die Mietlinge hervor, die wie der hochdekorierte diensthabende Kernphysiker in Tschernobyl ihre eigene Karriere so rücksichtslos verfolgen, dass sie Warnungen und kritische Töne der anderen in der Herde überhören und niederblöken und damit Unfälle provozieren, die größer sind als alles, was man bisher annahm.

Menschen mit Ecken und Kanten sind nicht vorgesehen in solchen Einheitsherden. Trügerische Harmonie. Solche falsche Idylle beendet die Hirtenrede.

Zwischen dem Hirten, der seine Herde kennt und der Herde, die seine Stimme hört, findet lebendige Kommunikation statt. Kein starres Gemälde wie das, was am Anfang vor unseren Augen stand wird gemalt. Vielmehr ruft uns die Stimme dessen, der von sich sagt „ich bin der gute Hirte“ immer wieder neu aus der trügerischen Idylle und dem erstarrten Gemälde heraus.

Die Stimme dieses Hirten erinnert uns daran erinnert: Ihr seid das Salz der Erde!

Diese Stimme mahnt uns, Zeuginnen und Zeugen der Hoffnung zu sein. Sie rüttelt uns auf, wo wir bequem geworden sind.

Die Stimme des guten Hirten tröstet und beruhigt uns aber auch, wo wir von innerer Zerrissenheit gequält sind.

In der Hirtenrede werden wir ermutigt, als Schafe die Stimme des Hirten zu hören und sich ihr nicht zu verschließen. Wir werden ermutigt, uns von der Sehnsucht rufen zu lassen, Ohren offen zu halten für das, was dem Leben dient, für das, was den verderbten und zerstörerischen Bildern Hoffnung, vielleicht sogar einen Hauch echter Idylle entgegensetzt.

Der Ruf des guten Hirten ist der Ruf zum Leben hier und jetzt und zum ewigen Leben. Immer geht es um die Fülle des Lebens. Um den Sieg des Lebens über den Tod, um Vergebung aller Schuld und todbringenden Kräfte. Dafür lässt der gute Hirte selbst sein Leben. Das können wir kaum begreifen.

Aber er kennt die Seinen, er kennt die Schafe, Lämmer und Böcke seiner Herde. Er kennt uns und sieht uns wie wir sind.

Ob wir auf den frisch grünen Auen des Frühlings und des jungen Semesters fröhlich und zuversichtlich wie die jungen Lämmer weiden oder ob wir im finstern Tal wandern, ob uns gar das Angesicht der Feinde an unserem Tisch zu schaffen macht – er kennt uns und hält uns in seiner Hand.

Nichts kann uns dieser Hand entreißen.

Von dieser Hand gehalten machen wir dann möglicherweise hier und da völlig überraschende Erfahrungen von Leben, wo wir kaum mehr daran geglaubt haben.

Manchesmal mag uns das so unwirklich vorkommen wie es Kindern aus Tschernobyl gegangen sein muss, als sie sechs Jahre nach dem Reaktorunglück zu einem Erholungsaufenthalt in den Schwarzwald kamen. Diese Kinder waren alle in der Zeit um das Unglück herum geboren worden. Unbeschwertes und gesundes Leben kannten sie schlicht nicht. Sie hatten verinnerlicht, dass man sich keinesfalls auf eine Wiese setzen darf, weil die Radioaktivität im Boden immer noch am höchsten war.

 

 

Nie werde ich die Freude und das Lachen dieser Kinder vergessen, als sie für wenige Tage ihres Lebens unbeschwert auf Bergwiesen herumtollen konnten.

Am Ende des Ferienaufenthalts sangen diese Kinder, für die der Morgentau noch immer eine Verseuchung des Bodens mit sich bringt und die ein Leben ohne Sorgen und Krankheit überhaupt noch nie kennengelernt hatten, für uns ein Lied, Sie kennen es alle:

 

Im Frühtau zu Berge wir geh’n, fallera,

es grünen die Wälder und Höh‘n, fallera.

Wir wandern ohne Sorgen singend in den Morgen, 

noch ehe im Tale die Hähne kräh’n.

 

 

Da wurde hinter der Melodie eines idyllischen Volkslieds schlagartig der Aufstand des Lebens gegen den Tod laut.

Es ist dieser Aufstand des Lebens gegen den Tod, zu dem die Stimme des guten Hirten uns ruft.

Die Stimme, die über unserem Leben erklingt wie der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 

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Letzte Änderung: 01.11.2012
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