27.05.2012: Prof. Dr. Gerd Theißen über HK 53-55

 

Predigt über Heidelberger Katechismus 53-55 im Pfingst-Universitätsgottesdienst am 27. Mai 2012 in der Peterskirche Heidelberg

 

Prediger: Prof. Dr. Gerd Theißen

 

 

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

 

Liebe Gemeinde,

 

Wir haben ein Kind getauft. Die Taufe ist das äußere Zeichen dafür, dass Gott bereit ist, in das Leben eines Menschen einzuziehen. Jede Taufe erinnert daran: Wir alle sind dazu bestimmt, Wohnung Gottes zu werden. Auch dieses Kind. Das gibt jedem Menschen einen unendlichen Wert – nicht nur denen, die getauft sind. Eine Wohnung hat schon dann einen hohen Wert, wenn keiner in ihr wohnt, aber viele eine Wohnung suchen. Gott ist ständig auf Wohnungssuche. Wenn er in allen Menschen wohnen will, erhöht das den Wohnwert jedes Menschen ins Unendliche – lange bevor er eingezogen ist.

 

Die Gegenwart Gottes im Menschen nennen wir den „Heiligen Geist“. Pfingsten ist sein Fest. Als der Geist Pfingsten vom Himmel kam, wurden die Jünger vorher nicht getauft. Der Geist weht, wo er will. Man kann keine Bedingungen festlegen, unter denen er kommt. Die Taufe ist dabei wie das Siegel auf einem Mietvertrag, dass Gott bei uns einziehen will oder eingezogen ist. Aber sie ist nicht der Mietvertrag selbst. Der gilt nach unserem Recht aufgrund des Wortes, aufgrund mündlicher Absprache. Das Wort ist das Entscheidende, die Taufe dessen Bestätigung. Sie sagt: In diesem Menschen will Gott wohnen.

 

Wenn man sich heute auf dem realen Wohnmarkt umschaut, gibt es unheilige Tendenzen. Bevorzugte Mieter sind Deutsche, Beamte, Kinderlose. Fremde und Asylanten haben es noch schwerer als Kinder. Anders geht es auf dem Wohnmarkt Gottes zu. Das Pfingstwunder erzählt, wie der Geist Menschen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen ergreift: Alte und Junge, Frauen und Männer, Herren und Knechte, Fremde und Einheimische. Der heilige Geist will in allen Menschen aller Völker und aller Schichten wohnen. Alle haben einen unendlichen Wert.

 

Was sagt nun der Heidelberger Katechismus, die wir in diesem Sommer unseren Predigten zugrunde legen, über diesen Heiligen Geist? Es sind in Frage 53 zwei kühne Aussagen. Die erste sagt: Der Geist ist Gott gleich. Die zweite: Er ist jedem Christen gegeben. Beide Aussagen ergeben zusammen: Was im Menschen von Gott gegenwärtig ist, ist nicht nur ein Schatten von Gott. Es ist an Rang, Würde und Gewicht Gott gleich. Gott selbst will in uns Wohnung nehmen.

 

Woran merken wir, dass er Wohnung in uns nimmt? Woran spüren wir Gottes Gegenwart? Gott berührt unser Herz, wenn uns die Einsicht ergreift: Alles könnte auch nicht und anders sein! Alles hat Gott geschaffen. Gott berührt unser Herz durch die unmittelbar damit verbundene Gewissheit: Auch wir könnten nicht sein, auch wir könnten anders sein. Vor allem aber: Wir sind nicht so, wie wir sein sollten. Wenn Gott unser Leben als seine Wohnung besichtigt, stellt er viele Wohnmängel fest. Wir sind renovierungsbedürftig. Es gibt Schimmel an den Wänden, manchmal sogar eine Leiche im Keller. Es ist der heilige Geist, der uns mit viel Unheiligen in uns konfrontiert und uns ändern will. Trotzdem will er in uns wohnen. Er ist bereit einziehen, bevor die Renovierung begonnen hat. Er bietet eine hohe Miete an, ja noch mehr. Der Heidelberger Katechismus sagt das in seiner Sprache so. Er macht uns teilhaftig „durch wahren Glauben Christi und aller seiner Wohltaten, tröstet uns und bleibt bei uns in Ewigkeit.“ Er will nicht nur zur Miete wohnen, er will uns als Eigentumswohnung für immer.

 

Wenn uns nun jemand sagt: Ist das nicht eine dubiose Mystik zwischen dem Heiligen Geist und dem unheiligen Menschen? Dass Gott in den Menschen gegenwärtig ist, ist in der Tat Mystik. Man muss daher keine spirituellen Tiefenbohrungen in Ostasien unternehmen, um Mystik zu finden. Sie gehört ins Zentrum christlichen Glaubens. Der Geist ist die Sehnsucht des Menschen nach seiner Erfüllung in Gott. Des Menschen Herz ist unruhig, bis es in ihm Ruhe findet. Der Heilige Geist ist aber ebenso die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen. Gott will in ihm Wohnung nehmen. Der 1. Johannesbrief bringt diese Mystik auf den Begriff: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (4,16). Darum kann er dazu mahnen: "Kinder, lasst uns nicht mit Worten, noch mit der Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit." Es ist eine Mystik des Willens und der Tat.

 

Wenn uns nun jemand sagt: Wenn alle unmittelbar zu Gott sind, warum brauchen wir dann noch die Kirche? Braucht der Heilige Geist eine Kirche, die so tut, als könne sie Wohnungen im Himmel anbieten, wenn wir recht „artig“ sind? Wir brauchen keinen solchen Wohnbaukonzern Kirche. Gott ist Bauherr und Architekt aller Wohnungen. Aber jemand muss auf dem Wohnmarkt das Angebot kennen und allen bekannt machen. Der Kirche ist das Wort anvertraut, das die Menschen daran erinnert: Ihr seid nicht Dreck auf einem winzigen Planeten im Weltall. Ihr seid Gottes Wohnort. Im Vergleich zum All seid ihr ein Nichts. Aber ihr könnt in dieses All etwas hineinbringen, das ohne euch nicht wäre. Das kann kein Stein, keine Pflanze, kein Tier. Das können nur Menschen, die Gottes Ebenbild sind. So wie Gott alles begonnen hat, so könnt ihr Neues beginnen.

 

Jeder Mensch ist unmittelbar zu Gott. Zwischen ihm und Gott steht keine Amtskirche, kein Bischof, kein Pastor. Gott aber will nicht nur in Dir wohnen, sondern in allen Menschen. Wenn Gott in einen Menschen einzieht, muss er seine Wohnungstür für andere Menschen öffnen. Dadurch ist die Kirche nicht nur Vermittler des Wohnangebots, sondern auch der Rahmen für eine neue Wohngemeinschaft. Die kann man verschieden organisieren. Die Überzeugung, dass in allen Christen der Geist Gottes wohnt, hat unter Reformierten das Vertrauen entstehen lassen: Alle Christen können zusammen die Kirche regieren. Alle Menschen, die vom Heiligen Geist erleuchtet sind, können in einem Dialog zu gültigen Entscheidungen kommen. Reformierte haben sich daher eine presbyterial-synodale Kirchenordnung gegeben. Jede Gemeinde entsendet ihre Vertreter. Dann wird verhandelt und beraten. Dafür braucht man einen Moderator, aber keinen Bischof. Das synodale Prinzip der Reformierten hat die Demokratie zwar nicht geschaffen, aber ein wenig hat sie in diese Richtung vorgearbeitet. Die Lutheraner machten dagegen Landesfürsten zu ihren Bischöfen. Das war keine gute Idee.

 

Weil dadurch die Abhängigkeit im Äußeren größer war, insistierten Lutheraner in einer anderen Hinsicht radikaler im Inneren auf der Freiheit als die Reformierten: Dabei ging es um die Hausordnung in den Wohnungen Gottes, um die Rolle der Gebote. In ihrer Privatwohnung, im Innersten des Menschen, wollen Lutheraner nicht mit Geboten konfrontiert werden. Da soll absolut Freiheit herrschen. Denn jedes Gebot macht Angst. Man könnte es nicht erfüllen. Jedes Gebot ist Herrschaft. Man muss ihm gehorchen. Jedes Gebot gibt zu erkennen, dass man ein Sünder ist. Das ist frustrierend. Im Innersten, wo man mit Gott allein ist, will man befreit sein vom Gesetz. Dort soll nur Liebe sein. Denn Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.

 

Aber wozu sind die Gebote dann noch gut? Eigentlich nur, um zu erkennen, wie gut man es hat, wenn man ihnen entronnen ist. Man hängt die Gebote daher nicht ins Wohnzimmer, sondern in den Flur – als einen Spiegel, in dem man erkennt, wie unvollkommen man ist. Darüber hinaus braucht man die Gebote, um außerhalb der eigenen Wohnung mit anderen Menschen zusammen zu leben. Das geht nicht ohne Zwang, ohne Polizei und ohne Herrschaft. Aber im Innern soll keine Herrschaft sein. Lutheraner sind Innerlichkeitsanarchisten – Anhänger totaler Herrschaftsfreiheit. Deshalb überwintert bei ihnen der Funke der Freiheit, selbst wenn die Verhältnisse in Stadt und Land noch so diktatorisch werden.

 

Anders die Reformierten. Sie hängen die Gebote als Hausordnung Gottes stolz in ihr Wohnzimmer an einen Ehrenplatz. Sie haben keine Angst, dass sie durch Gebote beherrscht werden. Diese Gebote werden vielmehr ihre eigenen Gebote, sobald der Gottes Geist in ihnen lebt und sie verwandelt und antreibt. Dann ist es so, als hätten sie sich selbst diese Gebote gegeben. Die Gebote sind Ausdruck der Liebe Gottes. Gott will mit ihnen nicht Angst machen, herrschen und demütigen. Er traut dem Menschen viel zu. Er hat ihn wenig niedriger gemacht als Gott selbst und ihm alles zu Füßen gelegt. Er würdigt den Menschen, sein Mitarbeiter bei der Gestaltung der Welt zu werden – und der Mensch erfüllt seine Gebote aus Dankbarkeit, nicht nur in der Privatwohnung, sondern in der ganzen Welt. Die zehn Gebote waren im Luthertum der Spiegel, in dem der Mensch sein Elend erkennt. Im Heidelberger Katechismus aber werden die 10 Gebote nicht im Abschnitt vom Elend des Menschen, sondern im Abschnitt von der Dankbarkeit des Menschen behandelt. Natürlich sind die Gebote manchmal unbequem. Auch der erneuerte Mensch ist nicht fertig. Selbst wenn er der Sünde entronnen ist, ist er nicht der Trägheit entronnen. Er weiß oft, was gut ist – aber tut es zu wenig. Trägheit und Faulheit ist daher bei Reformierten eine der größten Sünden.

 

Aber sind Reformierte nicht etwas zu stolz darauf, dass sie dazu ausersehen sind, Wohnung Gottes zu sein? Sind reformierte Kirchen privilegierte Wohnstätten Gottes? Die nächste Frage Nr. 54 im Heidelberger Katechismus gibt darauf eine überraschende Antwort.

 

Da lesen wir: „Was glaubst du von der heiligen, allgemeinen christlichen Kirche?“ In der Antwort heißt es: „Dass der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde ... von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält.“ Ich erinnere mich, wie unser Pastor im Konfirmandenunterricht fragte: Hat Gott nur Christen auserwählt? Und uns dann einschärfte: Vom Anbeginn der Welt gab es eine Gemeinde, die er sich auserwählt hat, also schon zu einer Zeit, als es noch gar kein Christentum gab. In allen Völkern, von denen die Bibel am Anfang spricht, erwählt er sich Menschen. Israel hat er erwählt. Die unsichtbare Kirche ist weiter als die sichtbare Kirche.

 

Damit stoßen wir auf den reformierten Grundsatz. Endliches kann Unendliches nicht aufnehmen. Finitum non capax infiniti. Das ganze reformierte Leben ist von diesem Grundsatz durchdrungen.

 

Endliches kann Unendliches nicht fassen. Das heißt im Blick auf den Menschen: Der Mensch ist Wohnung Gottes. Aber Gott ist mehr. Er ist größer als unser Gewissen. Wenn uns unser Herz verurteilt, so sagt der 1. Johannesbrief, dann ist Gott größer als unser Herz und erkennt alle Dinge (1 Joh 3,20). Wahrscheinlich ist die Wohnung, die Du Gott anbieten kannst, viel zu chaotisch, unaufgeräumt und sehr unordentlich. Vielleicht hapert es überhaupt mit Deinem Glauben, Deiner Liebe und Deiner Hoffnung. Aber Gott ist größer als dein Herz. Er will in Dir wohnen mit all diesen Defiziten.

 

Endliches kann Unendliches nicht fassen. Das heißt im Blick auf die Kirche: Die Kirche ist zwar die Versammlung derer, die Gott berufen hat. Aber Gott kann auch andere berufen und erwählen. Unser Pastor machte uns das so klar. Lutheraner, so sagte er, sind Christen. Man muss sie lieben und schätzen. Aber sie sind im Grunde ein Übergang zu den Katholiken. Katholiken sind Christen. Man muss sie lieben und schätzen. Aber sie sind ein Übergang zu den Heiden. Aber Gott ist frei, jeden Heiden zu erwählen. Du kannst ihm keine Vorschriften machen, wen er erwählt. Doch auch im Blick auf die reformierten Gemeinden gilt: Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Gott ist größer.

 

Endliches kann Unendliches nicht fassen. Das heißt im Blick auf die Sakramente. Das eigentliche Geschehen ist mehr als alles, was äußerlich geschieht. Beim Abendmahl ist Christus nicht in, mit und unter den Elementen präsent, sondern zieht mit Brot und Wein parallel zum äußeren Geschehen ins Inneren des Menschen ein. Es bleibt ein Überschuss: ein geheimnisvolles Extra Calvinisticum im Himmel, das die wenigsten Theologen einem erklären können. Und deshalb will auch ich es nicht erklären. Bei der Taufe finden wir denselben Parallelismus: So gewiss Gott durch äußeres Wasser reinigt, so gewiss wird der Mensch parallel dazu im Innern erneuert. Auch da bleibt ein Überschuss: Gott kann auch Menschen erwählen, die nicht getauft sind. Gott ist größer.

 

Endliches kann Unendliches nicht fassen. Das heißt im Blick auf die Welt: Gott ist mehr als die Welt. Das Ganze ist mehr als seine Teile, das System immer mehr als alle Elemente, ein Wert immer mehr als alle Fakten, der Grund alles Seins mehr als alles Seiende. Gott ist größer. Er ist der Schöpfer. Umso größer ist das Wunder, dass Gott in Menschen Wohnung nehmen will. Er wird keine Wohnung finden, die ihn fassen kann. Er hat alle Wohnungen geschaffen. Der den Raum geschaffen hat, passt in keinen Raum. Der die Zeit geschaffen hat, gehört nicht in die Zeit. Gott ist zu groß, als dass Endliches ihn aufnehmen könnte. Trotzdem will er in deinem Leben Wohnung nehmen, trotzdem in Dein Leben einziehen, obwohl Dein Leben endlich ist, begrenzt, fragmentarisch, widersprüchlich und manchmal traurig, manchmal sehr banal und unbedeutend. Er will in Menschen einziehen mit allen ihren Mängeln und will sie würdigen, seinen Willen in der Welt zu tun.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Letzte Änderung: 29.05.2012
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