28.04.2013: Pfarrerin Dr. Heike Springhart über Gal 1,6-12
Nicht von menschlicher Art – Predigt über Gal 1,6-12 im Universitätsgottesdienst am 28. April 2013
Pfarrerin Dr. Heike Springhart
In diesem Universitätsgottesdienst wurde Amélie Margarethe Mützlitz getauft.
Liebe Gemeinde,
Kendauchdich.
Ein zusammengenuscheltes Wort, das den Himmel öffnet. Kendauchdich. „Kendauchdich“ – das war ihr Wort, das sie vergessen hatte. Jetzt sitzt sie am Bettrand ihrer Oma und singt das Abendlied. „Gott, der Herr hat sie“ – die Sternlein – „gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet. Kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.“ In diesem Moment am Bettrand öffnet sich für Esther neu ein Fenster zum Himmel.
Unter dem Titel „Gott braucht dich nicht“ nimmt Esther Maria Magnis die Leserinnen und Leser mit auf ihren Weg des Ringens um den Glauben an Gott. Bevor Esther am Bettrand ihr Kendauchdich wiederfindet, hat ihr das Leben viel abverlangt. Ihr Vater verliert den Kampf mit dem Krebs – und dabei hatten sie und ihre Geschwister so sehr darum gebetet, dass sie ihren Vater behalten dürfen.
Ihr dämmert, dass das, was das Leben trägt, das Evangelium mehr und anderes ist, als das, was sich kluge und gutwillige Menschenköpfe erdenken. Zu viel hatte sie davon als Jugendliche erlebt. Zuviel Evangelium von menschlicher Art. In der Jugend von Esther sah das so aus: „In der Kirche, je nach Priester, je nach Predigt, schien Gott jemand zu sein, der eine bestimmte Form in der Welt haben wollte. Bei dem einen Priester hatte ich das Gefühl, dass das Himmelreich erst angebrochen ist, wenn alles wieder so ist, wie es einst in seiner Heimat und Jugendzeit im Harz der siebziger Jahre war. Bei einem Pfarrer (...) schien Gottes Wille vor allem der zu sein, dass die CDU abgewählt wird. Wieder ein anderer schimpfte über Habgier (...) Alles, was Gott offenbar von mir wollte, war unmöglich. Ich hatte keine Telefonnummer von Bundeskanzler Kohl.“[1]
Vermutlich hätten Esther und Paulus sich gut verstanden. Vermutlich könnten sie sich vortrefflich darüber austauschen, dass das Evangelium unserer Verfügungsmacht entzogen ist.
Zu Beginn des Galaterbriefes erinnert Paulus die Gemeinde in Galatien und uns mit deutlichen Worten daran – er schreibt:
Mich wundert, dass ihr euch so bald abwenden lasst von dem, der euch berufen hat in die Gnade Christi, zu einem andern Evangelium, obwohl es doch kein andres gibt; nur dass einige da sind, die euch verwirren und wollen das Evangelium Christi verkehren.
Aber auch wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht. Wie wir eben gesagt haben, so sage ich abermals: Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht. Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zuliebe? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht. Denn ich tue euch kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi. (Gal 1,6-12)
Ohne große Umschweife sticht Paulus am Anfang seines Briefes in die Situation der Gemeinde in Galatien. Die Galater sind gerade dabei, sich den judenchristlichen Gegnern des Paulus zuzuwenden. Bissig polemisch fängt er an und hält ihnen den Spiegel vor.
Gleich einem entrüsteten Politiker kämpft er darum, die Galater auf Linie zu halten. Mit allen Mitteln, die aus antiken Gerichten und heutigen Parteitagen bekannt sind. Mit Polemik und beißender Ironie, vollmundig und in klarem Schwarz-Weiß.
Die, die ein anderes Evangelium predigen, wollen nur verwirren!
Ach, genaugenommen gibt es überhaupt kein anderes Evangelium!
Wer ein anderes Evangelium predigt, der ist verflucht!
Eins nach dem anderen setzt Paulus drauf – und bliebe es dabei, würde ihn nicht viel von rhetorisch geschliffenen, suggestiv gefährlichen Demagogen unterscheiden.
Aber bei genauem Hinsehen zeigt sich: Paulus tritt hier nicht in ein Rededuell mit einem Widersacher. Er führt nicht ein Streitgespräch, an dessen Ende per TED entschieden wird, wer sich am besten geschlagen hat.
Paulus stellt die entscheidende Frage an jede Predigt, an jede Theologie, aber auch – und vor allem an jeden, der oder die glaubt:
Versuche ich um jeden Preis, Menschen gefällig zu sein oder rechne ich damit, dass das, was mich trägt, nicht von menschlicher Art ist?
Es geht beileibe nicht darum, Menschenliebe und Gottesliebe gegeneinander auszuspielen. Es geht nicht um Entweder - Oder. Aber es geht um Freiheit und um eine neue Perspektive, die sich meinem Leben dann öffnet, wenn eben nicht alles gleich und damit auch gleichgültig ist.
Esther war mit einem solchen gleichgemachten Jesus auf Du und Du aufgewachsen, in den 80ern. „Das einzige, worin sich die Kirche von der Gesellschaft meiner damaligen Meinung nach unterschied, war, dass die Kirche Jesus besonders wichtig fand. (...) Ich hatte genug Freunde. Ich brauchte als Vierzehnjährige nicht noch einen Unsichtbaren und schon gar keinen orientalischen Pazifisten mit Schlappen und Vollbart, der sich für mich, wie ich dachte, eh nicht sonderlich interessiert hätte, weil ich weder Nutte noch Zöllner war, außerdem hatten wir einen Mercedes, der nicht durchs Nadelöhr gepasst hätte. So niedrigschwellig Jesus auch angeboten wurde, so wenig konnten meine Freunde und ich etwas mit ihm anfangen. Man konnte ihn neben Gandhi abhaken unter der Kategorie: ‚Der Typ war okay.’“[2]
Der Versuch, die Schwelle zum Glauben, zu Gott, zu Jesus, zum Evangelium oder zur Kirche niedrig zu halten kommt da an die Grenze, wo kein Platz mehr ist für die Erfahrung des Fremden, des Anderen und des Unerklärlichen.
Gefällige und wohlklingende Worte versiegen spätestens dann, wenn die großen Fragen nach Leid, nach Krankheit, nach dem Warum? im Raum stehen.
Wenn der Glaube an Gott ein Eintreten in ein selig-rosanes Wolkenkuckucksheim verspricht, dann stürze ich heraus, sobald die Nachtseiten des Lebens über mich hereinstürzen.
Die Klugen unter den Religionskritikern haben das längst zu Gehör gebracht. Illusion, Opium, schöner Schein – was haben uns Freud, Marx und Feuerbach nicht alles ins Stammbuch geschrieben.
Gegen jede Art von vereinnahmender Glaubensduselei, ruft Paulus den Galatern und uns in Erinnerung, dass das Evangelium uns entzogen ist.
Wir haben es nicht in der Hand, es hat sich uns erschlossen – und es erschließt sich uns immer wieder neu. Weil Gott es ist, der auf uns zukommt.
Den Weg zum Glauben und in die Gemeinschaft der Kirche ebnen uns Menschen – sicher. Aber es hängt nicht allein an ihnen, ob ein Menschenkind wie Amélie sich von Gott getragen weiß. Auch wenn sie gehalten von ihren Eltern durch die Hand eines Menschen getauft wurde – das Entscheidende dieser Taufe kommt von Gott. Er kommt auf sie zu, schließt sie in seine Arme und nimmt sie unter seine Fittiche.
Paulus erinnert uns heute daran, dass das, was wir uns mit harter Arbeit und unermüdlichem Nachsinnen über die großen theologischen Fragen erarbeiten und erschließen, letztlich immer der Bewahrheitung durch Gott selbst anheim gestellt bleibt.
Damit wird nun aber keineswegs egal, was mich als Mensch angeht und ausmacht. Was mich bewegt, erschüttert und verletzt. Was mich verzweifeln lässt oder was mich unbändig fröhlich sein lässt.
Im Gegenteil: die Worte von Paulus schaffen Raum für einen freien und lebendigen, aber eben auch realistischen Blick auf die Welt und das Leben.
Der Grund dafür ist nicht etwa die Erkenntnis, dass es besser eben nicht zu haben ist. Der Grund für diesen realistischen Blick des Glaubens liegt in Gott selbst.
Nachdem Esther ihr Kendauchdich wiedergefunden hat, wird nicht alles einfach gut. Auch ihr Bruder wird lebensbedrohlich krank. Aber sie lässt Gott nicht mehr los. Und sie bringt auf den Punkt, was auch Paulus an die Galater schreibt. Lassen wir sie nochmals zu Wort kommen, auch sie wird deutlich und markig, ganz wie der eifernde Apostel am Anfang seines Briefes: „Gott hat sich in dieser Welt am Kreuz hinrichten lassen. Das gehört zu den dreckigsten Todesarten, die es gibt. Und Gott hat es zugelassen, dass mein Bruder sich zu Tode erschrak. Und Gott hat gesagt, dass jeder sein Kreuz in dieser Welt auf sich nehmen und ihm nachfolgen soll. Es war nie die Rede davon, dass es hier witzig wird. Es war nie die Rede davon, dass uns allen hier die Sonne aus dem Arsch scheint. (...) Unser Glaube hat in sich das Wissen um den ganzen Dreck der Welt. Er hat einen Schrecken. So wie diese Welt. Und erst dann kommt die Frohe Botschaft. Vorher gibt es keinen Grund, dumm grinsend auf der Kanzel zu stehen und die Menschen, die echte Not haben, deren Ehen gerade kaputt gehen, deren Kinder krank werden, deren Geschwister sterben und Eltern dement werden, deren Herzen gebrochen werden, deren Stolz verletzt wird, mit einem weichen gemütlichen Gesäusel und Sozialkitsch einzulullen.“[3]
Paulus und Esther ermutigen mich dazu, daran festzuhalten, dass es Gott ist, der sich mir offenbart, der Menschen zu lebendigen Bäumen wachsen lässt, mit knorzigen Rinden und verzweigten Ästen.
Das Evangelium wird von Menschen gepredigt, von Paulus, von Esther, auf dieser Kanzel – aber es ist nicht von menschlicher Art.
Das ist Kritik und Hoffnung zugleich.
Und es ist beredtes Zeugnis davon, dass wir getragen sind vom Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
[1] Esther Maria Magnis, Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung, Hamburg 22012, 26.
[2] A.a.O., 29.
[3] A.a.O., 224.