30.01.2011: Prof. Dr. Jan Christian Gertz über Gen 8, 1-12
Die Weisheit des Mythos
Predigt zu Genesis 8, 1-12
am 30.01.2011 im Semesterschlussgottesdienst in der Universitäskirche
Prof. Dr. Jan Christian Gertz
Gott dachte an Noah und an das ganze Wild und an alles Vieh, das mit ihm im in der Arche war. Und Gott ließ einen Wind über die Erde hingehen und das Wasser sank. Da schlossen sich die Quellen der Urflut und die Fenster des Himmels, und der Regen vom Himmel wurde zurückgehalten. Und das Wasser verlief sich allmählich aber stetig von der Erde, und das Wasser nahm ab nach Ablauf von hundertfünfzig Tagen. Am siebzehnten Tag des siebten Monats setzte die Arche auf den Bergen von Ararat auf. Und das Wasser nahm stetig ab bis zum zehnten Monat. Im zehnten Monat, am ersten des Monats, wurden die Spitzen der Berge sichtbar. Und nach Ablauf von vierzig Tagen öffnete Noah das Fenster der Arche, das er gemacht hatte, und ließ einen Raben hinaus, und der flog hinaus, flog hin und her, bis das Wasser von der Erde weggetrocknet war. Dann ließ er eine Taube auffliegen, um zu sehen, ob das Wasser wenig geworden war auf dem Erdboden. Aber die Taube fand keinen Ruheplatz für ihre Füße und kehrte zu ihm in die Arche zurück, weil noch überall auf dem Erdboden Wasser war. Da streckte er seine Hand aus, nahm sie und brachte sie zu sich in die Arche. Da wartete er noch sieben weitere Tage, dann schickte er die Taube erneut aus der Arche. Und die Taube kam um die Abendzeit zu ihm zurück und siehe, ein frischer Zweig eines Olivenbaums war in ihrem Schnabel. Da erkannte Noah, dass das Wasser wenig geworden war auf der Erde. Hierauf wartete er noch weitere sieben Tage, dann schickte er die Taube los, und sie kehrte nicht mehr zu ihm zurück. (Gen 8, 1-12)
I.
Noah war ein schweigsamer Mann. Drei lange Kapitel berichtet die Bibel über die Sintflut. Sie weiß Anfang, Scheitelpunkt und Ende der Flut zu datieren, sie nennt die Anzahl der Regentage, meldet Wasserstände, berechnet die Maße der Arche, führt uns in die innersten Gedanken Gottes, und doch überliefert sie aus der Zeit, in der alles Leben auf dieser Erde am Überleben Noahs hing, nicht einen Satz aus dem Munde des Sintfluthelden. Adam, Eva, auch die Schlange und Kain wussten da in den entscheidenden Momenten mehr zu sagen.
Gott also befiehlt den Bau einer Arche, Noah gehorcht – und schweigt. Gott urteilt, dass der Mensch böse sei, dass er es bereue, den Menschen und alles Leben geschaffen zu haben, dass er das Ende allen Lebens beschlossen habe und Mensch wie Tier von der Erde wegwischen wolle, dass allein der gerechte Noah, seine Familie und eine streng bemessene Auswahl tierischen Lebens verschont werde solle. Und der gerechte Noah spricht kein Wort. Anders als Abraham, der später mit Gott um das Überleben jedes Einzelnen aus Sodom und Gomorrha feilscht, der möglicherweise gerecht ist (Genesis 18), bringt Noah nicht einmal ein zaghaftes „ja, aber“ zustande.
Wer schweigt, stimmt zu? Vielleicht verstummt Noah zunächst vor blankem Entsetzen über Gottes Plan oder aus Angst, doch noch selbst zu den Opfern zu zählen. Und nach der Flut könnte die Ursache für seine Sprachlosigkeit die Verzweiflung und Verlassenheit des Davongekommenen sein, der überlebt hat und nicht weiß, warum er und nicht die Freundin oder auch der Feind verschont worden sind. Wie viele nach Noah haben sich diese Frage gestellt? Der rechtzeitig aus Deutschland emigrierte Erich Fried formulierte es mit Blick auf die Millionen ermordeter Juden so: „Wie oft muss ich sterben dafür, dass ich dort nicht gestorben bin?“ Diese Frage ist ungleich zersetzender als Hiobs Klage über das Leiden des Gerechten. Um sie zu stellen, bedarf es nicht einmal des Blickes auf die Menschheitsverbrechen des vergangenen Jahrhunderts. Wir können mit gleichem Ernst auch im Horizont unserer Erfahrungen fragen: Was habe ich getan, dass meine Söhne gesund sind, und das Kind meines Bruders behindert? Warum habe ich Erfolg, und die nicht weniger talentierte und fleißige Mitbewerberin sitzt auf der Straße? Finden wir es mit Blick auf uns selbst gerecht, dass wir alle in Frieden und in einem zumindest relativen Wohlstand leben, während ein Großteil der Menschheit in Armut und Chaos versinkt? Was berechtigt uns eigentlich zum seltenen Privileg einer freiheitlichen Gesellschaft, das allein 1,3 Milliarden Chinesen eiskalt und jetzt der Bevölkerung in Libyen oder im Iran mit offener Gewalt vorenthalten wird?
Vielleicht hat sich schon Noah diese Frage nach der Schuld der Schuldlosen gestellt. Die Auskunft „Noah war gerecht in seiner Generation“ dürfte für das quälende Gewissen wohl mehr Last als Entlastung gewesen. Was heißt „gerecht“, wenn die Klammer vor und nach diesem Urteil lautet: Das Trachten und Dichten des menschlichen Herzens, also auch Noahs und Ihres und meines, ist von Jugend an nur böse? Gibt es ein bisschen weniger als „nur böse“, dass dazu berechtigt, einen Platz auf der Arche zu ergattern? Ließe sich nicht hinter jeder gerechten Tat doch noch ein böser Gedanke finden? Ist es nicht der pure Zufall, der Noah rettet, was sich dem Glaubenden dann als unverdiente Gnade darstellt? Berechenbarer sind da schon die Kriterien, die der Regisseur Roland Emmerich in seinem Katastrophenfilm über den Untergang der Welt im Jahr 2012 benennt: Platz auf der Arche bekommen diejenigen, die die Zukunft durch ihre wissenschaftliche Expertise oder durch gute Gene sichern können, sowie diejenigen, die den Bau der Arche finanzieren. Im Klartext: die Superschlauen, die Superschönen, die Superreichen.
Die spätere Tradition hat solche Gedanken zum Überleben Noahs nicht ausgehalten. Sie hat Noah zunächst zum einzigartig Frommen stilisiert und dann en passant zum Prediger der Gerechtigkeit erkoren (2. Petrus 2,5), der dem zur Vernichtung schreitenden Gott zwar nicht in den Arm gefallen ist, der aber, wenn auch vergeblich, seine Zeitgenossen, Nachbarn, Freunde, Verwandte zur Umkehr oder zum Mit-Bauen bewegen und sie so vor dem Untergang retten wollte. Wir kennen die Bilder aus den Kinderbibeln. Noah und seine Frau stehen bei Sonnenschein mitten in der Wüste vor der Arche mit einem Regenschirm in der Hand. Da ist der Spott nicht fern und es leuchtet schon ein, dass der glaubensstarke Noah gerettet worden ist. So steht es zwar nicht im Alten Testament, aber so hat dann alles wieder seine Ordnung. Den Bösen wie den Guten ist göttliche Gerechtigkeit widerfahren. Das geht dann auch ohne Gott: Wenn wir alle ein wenig die Schöpfung bewahren, dann gibt es auch keine neue Sintflut. Doch das sind unzeitige Erklärungsversuche. Es sind verspätete Worte, die in der Sintfluterzählung zum Glück keinen Platz haben, weil eine moralisch wohltemperierte Fassung bestenfalls erbauliche Unterhaltung böte.
II.
Die Sintfluterzählung ist ein Mythos. Sie ist eine großartige und zugleich schreckliche Erzählung. Ihre Glaubwürdigkeit gründet mit Sicherheit nicht darin, dass sie theologisch oder politisch korrekt ist. Noch weniger hat sie deswegen Recht, weil Gesteinsformationen auf dem Berge Ararat für Reste der Arche gehalten werden. Auch lässt sich ihre Bedeutsamkeit schwerlich damit begründen, dass gegen die besseren Argumente der Evolutionslehre und Paläontologie mit einer universalen Flut in historischer Zeit gerechnet wird, bei der eine Art Supertanker allen Tieren eines Bibelzoos Unterkunft geboten hat. Die Wahrheit der biblischen Sintfluterzählung liegt vielmehr darin, dass der Mythos in einseitiger Konzentration etwas aussprechen und durchleuchten kann, was wir als reales Geschehen kaum ertragen könnten und was wir dennoch ganz persönlich auf uns beziehen müssen.
Es ist ein merkwürdig menschelndes und unausgeglichenes Gottesbild, das mit scheinbarer Naivität gezeichnet wird. Der Schöpfergott beendet sein Werk und stellt zufrieden fest: „Siehe, es ist sehr gut“ (Genesis 1). Die Menschen essen Früchte und Gräser, die Tiere die anderen Pflanzen, jeder hat seinen Raum und keiner kommt sich in die Quere. Und dann die maßlose Enttäuschung ob all der Bosheit und Gewalttat, des Fressens und Gefressen-Werdens. Der Schöpfer bereut, dass er den Menschen und alles tierische Leben geschaffen hat. Die Reaktion ist ein zorniges „Also weg damit!“. Das ist uns bestens vertraut: Bei Verfehlungen und Abweichungen aller Art ist die Forderung nach schnellem wie konsequentem Eingreifen schnell erhoben. Doch Vorsicht: wenn wir das unendliche Leid bilanzieren, das wir seit den frühesten Anfängen unserer Zivilisation über diese Schöpfung gebracht haben, kann uns diese Maxime schnell zum Fallstrick werden. Mit Blick auf die Folgen, die Verstrickung jedes einzelnen Organismus auf dieser Erde in einen unauflöslichen Zusammenhang von Gewalt und Tod ist die Grausamkeit des göttlichen Vernichtungsschlags gegen die eigene Schöpfung nur zu konsequent. Nach den Maßstäben einer absoluten Strafgerechtigkeit ist sie angemessen – auch wenn wir davor bis ins Mark erschrecken.
Noah dürfte das göttliche Strafgericht als hart, aber auch als angemessen und konsequent empfunden haben. Nun redet Noah kein Wort, aber er handelt. Als das Wasser endlich sinkt, lässt er zunächst einen Raben und dann eine Taube aufsteigen, um zu erfahren, ob Land in Sicht ist. Doch wozu? Und weshalb zwei Vögel? Die Religionsgeschichtlerin würde vermutlich sagen: Weil er das hübsche Motiv aus dem babylonischen Gilgamesch-Epos kennt. Der alttestamentliche Quellenkritiker könnte beisteuern, dass jede der beiden in unserem Text zusammengestrickten Versionen der Sintfluterzählung ihr Vogelexperiment braucht, weshalb zuerst der Rabe und dann die Taube hinausgelassen werden. Und Friedens- wie Umweltaktivisten würden vermutlich im locker-assoziativen Anschluss an den Text auf den hohen Symbolgehalt der Taube mit dem Ölzweig hinweisen. Das wird alles stimmen. Es erklärt aber nicht, was Noah mit der Aktion bezweckte. Vielleicht hat er ja – einmal mit der Konsequenz göttlichen Strafhandelns konfrontiert – dem göttlichen Frieden eines sinkenden Pegelstandes nicht getraut und wollte wie der ungläubige Thomas die Sache gleichsam naturwissenschaftlich forschend im Raben-Experiment samt Tauben-Kontrollgruppe überprüfen. Verdenken kann ich es ihm nicht. Ein religiöses Urvertrauen werden wir uns und Noah zu diesem Zeitpunkt der Geschehnisse jedenfalls kaum zumuten wollen.
III.
Doch anders als der Predigttext endet die Sintfluterzählung zu unser aller Glück nicht mit Taube und Ölzweig. Noah bringt ein Opfer dar und der beschwichtigende Duft steigt Gott in die Nase, worauf dieser beschließt, zukünftig auf derartige Strafaktionen zu verzichten, und dieses Versprechen für Noah und alle Menschen nach ihm mit dem Zeichen des Regenbogens besiegelt.
Wer mit aufgeklärter Überheblichkeit den ungefilterten Anthropomorphismus dieser Szene belächelt, ist ein Narr. Das zeigt die Begründung für Gottes ewigen Verzicht auf eine weitere Sintflut. Sie lautet nicht: Ich will die Erde zukünftig nicht mehr wegen der Menschen verfluchen, denn sie sind ja doch nicht so schlimm, wie ich dachte, zumal sie so schöne Opfer darbringen und so schön singen. Das wäre menschliche Logik und in der Tat anthropomorph naiv. Die Begründung lautet vielmehr: Ich will die Erde zukünftig nicht mehr wegen der Menschen verfluchen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Das verstehe, wer will. Was ein knappes Jahr zuvor noch den Vernichtungsschlag ausgelöst hat, soll nun begründen, warum sich Derartiges nicht wiederholt. Der Mensch bleibt sich und seinem Hang zum Bösen treu. Kein Mensch ist ohne Fehl und Tadel, keiner ohne Schuld – weder vor noch nach der Flut. In dieser Hinsicht ist der Mensch durchsichtig. So weit reicht der göttliche Blick in die Person. Und Gott nimmt das hin. Es ist kein Gott, der nur die Makellosen akzeptiert und alle anderen verwirft. Statt einer bleibenden Verurteilung des Menschen vollzieht der ewige, allmächtige und allwissende etc. Schöpfergott eine radikale Kehrtwende. Er hat seine Erfahrungen mit seiner Schöpfung gemacht. Er wurde bitter enttäuscht und der Zauber allen Anfangs ist einer nüchternen Realität gewichen. Nach der ehernen Logik absoluter Gerechtigkeit müsste Gott die Beziehung zu seiner Schöpfung abreißen lassen. Doch Gott überfordert uns nicht, sieht uns, wie wir sind und stellt seinen Erhaltungswillen über das Prinzip eines erbarmungslosen wie gerechten Zusammenhangs von Tun und Ergehen des Menschen. Mit diesem „Willensumsturz in Gott“ (Jörg Jeremias) riskiert die Sintfluterzählung den Lehrsatz eines hoheitlich-unwandelbaren Gottes und gewinnt den Glauben an einen unbegreiflich wandelbaren und zugewandten Gott. – Das kann nur der Mythos.
IV.
Die Leidenschaft Gottes hinter dieser biblischen Grundsatzentscheidung erahnen wir beim Propheten Hosea. Angesichts der Verfehlungen seines Volkes ruft Gott zwischen Zorn, Klage und Mitleid hin- und hergerissen aus: „Mein Herz hat sich in mir umgewandt, mit Macht ist mein Mitleiden entbrannt. Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken, kann Ephraim nicht wieder verderben: Denn Gott bin ich und nicht Mensch“ (Hosea 11,8–9*). Der innere Wesenskern Gottes wendet sich gegen die Zumutung, ein Gott nach menschlicher Vorgabe sein zu müssen. Was bei Hosea für Israel gilt, gilt mit Noah für die gesamte Menschheit. Weil Gott Gott ist, kann er uns realistisch ansehen. Weil er uns realistisch ansieht, kann er fordern, ohne uns zu überfordern. Weil Gott Gott ist, kann er seiner Schwäche für uns bedingungslos nachgeben, bis dahin dass er für uns und unsere Schuld selbst ans Kreuz geht.